Die Corona-Pandemie hat Not sichtbar gemacht. Diese Erkenntnis ist in den letzten zwei Jahren vielfach bestätigt worden. Lange Schlangen vor Lebensmittel-Ausgabestellen in Genf, Bern, Lausanne oder Zürich belegten dies immer wieder.
Kürzlich veröffentlichte Caritas Schweiz dazu neue Zahlen. Die Corona-Krise habe die prekäre Situation vieler Menschen in der Schweiz sichtbar gemacht, betonte Caritas im Ende 2021 erschienenen Sozialalmanach. Die Krise habe bestehende Ungleichheiten zusätzlich verschärft. Während Haushalte mit geringen Einkommen durch die Krise Einkommensverluste von durchschnittlich 20 Prozent erlitten, konnten Haushalte mit hohen Einkommen sogar sparen.
Die Corona-Krise verstärke auch problematische Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Stellenverluste seien in Branchen besonders gross, in denen viele Personen ohne anerkannt Ausbildung beschäftigt seien. Für sie werde es künftig noch schwieriger, eine Stelle zu finden.
Gleichzeitig nähmen prekäre und instabile Arbeitsverhältnisse, Mehrfachbeschäftigung und Teilzeitarbeit in tiefen Pensen weiter zu. Diese seien aber nur schlecht sozial abgesichert. Von all diesen Arbeitsformen und -verhältnissen seien Frauen viel stärker betroffen als Männer.
Bei der Teilzeitarbeit sei das Verhältnis besonders ausgeprägt. Im Jahr 2020 arbeiteten sechs von zehn erwerbstätigen Frauen und nicht einmal zwei von zehn Männern in einem Teilzeitpensum. Knapp ein Viertel der Frauen arbeitete in einem Pensum unter 50 Prozent. Bei den Müttern mit Partner und Kindern sei gar die Hälfte nicht oder in einem Pensum unter 50 Prozent erwerbstätig.
Längst nicht alle täten dies freiwillig, sondern auch, weil Betreuungsangebote für Kleinkinder zu teuer seien oder ganz fehlten. Das tiefe Erwerbspensum vieler Frauen führe zu einer finanziellen Abhängigkeit vom Partner und zu einer tiefen Rente im Alter. Im Jahr 2020 verfügte mehr als ein Viertel der Frauen lediglich über eine AHV-Rente. Und auch diese reiche bei vielen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern. Fast ein Sechstel der Frauen sei im Alter auf Ergänzungsleistungen angewiesen.
Viele Organisationen haben Alltagshilfe eingerichtet, darunter viele Ausgabestellen für Lebensmittel. Wer die Nutzerinnen und Nutzer dieser Abgabestellen sind und welche Bedarfe bei ihnen vorliegen, hat die ZHAW Soziale Arbeit untersucht.
Im Laufe einer Studie wurden neun verschiedene Bezugsgruppen ausgemacht. Dies sind die klassischen Randständigen, einige davon obdachlos; ältere, einsame Menschen mit Sozialhilfe; Sozialhilfebeziehende; Armutsbetroffene ohne Sozialhilfebezug; Beziehende von Asylfürsorge; Wanderarbeitende ohne Anspruch auf Sozialhilfe; Sexarbeitende, teilweise ohne Anspruch auf Sozialhilfe; Beziehende von asylrechtlicher Nothilfe und Sans-Papiers ohne Anspruch auf Sozialhilfe.
Am unmittelbarsten und umfassendsten von der Corona-Krise betroffen seien die Sans-Papiers und die Sexarbeitenden, heisst es dazu seitens der ZHAW. Sie befänden sich ohnehin schon in einer dauerhaft prekären Lage, sowohl hinsichtlich Arbeits- wie auch Aufenthaltssituation. Da sie kein Anrecht auf Sozialhilfe hätten und in ständiger Angst lebten, ausgeschafft zu werden, seien sie besonders auf niederschwelligen und diskreten Zugang zu Nahrungsmitteln angewiesen.
So seien die Mehrheit der Sans-Papiers Frauen, die in Privathaushalten als Reinigungskräfte, Haushaltshilfen oder Kinderbetreuerinnen arbeiteten. Mit der Home-Office-Pflicht entfiele bei vielen eine zentrale Verdienstmöglichkeit. Vielfach sei auch die Wohnsituation unstabil. Nicht selten würden sie ausgenutzt, indem von ihnen überteuerte Mieten verlangt würden.
Mit dem Andauern der Pandemie steige darum gerade auch bei Sans-Papiers das Risiko, die Wohnung zu verlieren. Die Folge seien noch beengtere Wohnverhältnisse als vorher. Quarantänevorschriften einzuhalten, sei unter diesen Umständen unmöglich.
Auch Familien und Alleinerziehende, deren Einkommen infolge Kündigung oder Kurzarbeit massiv eingebrochen sei, befänden sich ebenfalls in einer hochgradig prekären Situation.
Viele Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus wollten gar nicht erst Sozialhilfe beantragen, so die ZHAW weiter. Dazu gehörten Familien, Alleinerziehende, Selbständigerwerbende sowie im Niedriglohnsektor Angestellte, die sogenannten Working Poor. Einige hätten einen Schweizer Pass, andere den Status B oder C. Letztere lebten teilweise seit vielen Jahren in der Schweiz.
Die finanzielle Situation aller Gruppen sei schon vor Corona prekär gewesen, so die ZHAW. Die Auswirkungen der Pandemie auf die Lebenslagen unterschieden sich jedoch stark. So gebe es einen direkten Zusammenhang zwischen dem aufenthaltsrechtlichen Status und Prekarität beziehungsweise zwischen dem Zugang zu sozialhilfe- und sozialversicherungsrechtlicher Unterstützung und Prekarität.
Je prekärer oder irregulärer die Anstellungsverhältnisse, umso unmittelbarer der Unterstützungsbedarf. Je länger die Massnahmen andauerten, umso stärker steige die Nachfrage nach Unterstützung. Längerfristige Überlegungen, wie Bezügerinnen und Bezüger von kostenlosen Lebensmitteln unterstützt werden können, seien angezeigt, so die ZHAW.
Im Anschluss an die Studie wird die Situation unter anderem in Zürich diskutiert. Der Stadtrat bewilligte daraufhin 2 Millionen Franken, die ab Sommer 2021 als wirtschaftliche Basishilfe eingesetzt wurden.
Um dieses Projekt gibt es allerdings im Moment rechtliche Auseinandersetzungen zwischen dem Zürcher Bezirks- und dem Stadtrat. Weil der Bezirksrat den Stadtratsbeschluss aufgrund ausländerrechtlichen Bestimmungen aufhob, dürfen derzeit keine weiteren Hilfen ausbezahlt werden.
Angesichts der Notlage vieler Betroffener erklärte sich die Reformierte Kirchgemeinde Zürich daraufhin bereit, die Kosten für die wirtschaftliche Basishilfe zunächst zu übernehmen. Deshalb wurde ein Betrag von 100´000 Franken gesprochen, wie die Kirchgemeinde mitteilte. Dieser solle zurückgezahlt werden, falls der Rekurs des Stadtrats erfolgreich sei.
Es gehöre zum Kernauftrag der Kirche, für Notleidende da zu sein, so Kirchenpflegepräsidentin Annelies Hegnauer. Man wolle verhindern, dass mitten in der Corona-Pandemie die Unterstützung für die Schwächsten der Gesellschaft wegfalle. Die Kirchgemeinde übernehme keine staatlichen Aufgaben, sondern springe da ein, wo der Staat an seine Grenzen stosse und Menschen durch alle Netze zu fallen drohten. Dies sei hier der Fall.