Wie Armut Denken, Handeln und Gesundheit beeinflusst

Wie Armut Denken, Handeln und Gesundheit beeinflusst

Armut bedeutet nicht nur finanzielle Einschränkung, sondern sie führt zu Stress, kurzfristigem Denken und macht anfällig für körperliche und seelische Krankheiten. Dies zeigte eine Studie der Universität Zürich und des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Was kann die Diakonie dagegen tun?
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Wie Armut Denken, Handeln und Gesundheit beeinflusst

Armut bedeutet nicht nur finanzielle Einschränkung, sondern sie führt zu Stress, kurzfristigem Denken und macht anfällig für körperliche und seelische Krankheiten. Dies zeigte eine Studie der Universität Zürich und des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Was kann die Diakonie dagegen tun?

Sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung, das heisst 570’000 Menschen, waren gemäss Bundesamt für Statistik 2015 arm. Einzelpersonen hatten nicht mehr als 2239 Franken monatlich zur Verfügung, Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern nicht mehr als 3984 Franken. 145’000 dieser Menschen sind arm, obwohl sie arbeiten. Dies entspricht rund 4 Prozent der Erwerbstätigen.

Für die einen ist dies ein temporärer Zustand, eine Krise. Viele finden jedoch nicht mehr aus der Armut heraus. Dies hat vielerlei Gründe: Wer arm ist, hat weniger Einfluss, weniger Zugang zu gesellschaftlichen Anlässen und läuft Gefahr, isoliert zu werden.

Armut beeinflusst Denken, Handeln und Gesundheit
In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit nicht einmal mehr für ein Sofa sparen muss, empfinden es Arme als demütigend, von einem Schaden an einem Haushaltsgerät aus dem Konzept gebracht zu werden.

Ohne Geld ist es schwierig, Netzwerke zu pflegen, denn dies ist oftmals mit Konsumation wie Kaffee trinken, Essen gehen, Kinobesuchen oder Ausflügen verbunden. Doch Netzwerke sind wichtig bei der Jobsuche. Auch Weiterbildung kostet Geld. Und fürs Bewerben braucht es Selbstbewusstsein.

Für Menschen in finanzieller Not ist es ein Kraftakt, das Selbstbewusstsein zu bewahren, da Unvorhergesehenes wie eine kaputte Waschmaschine oder eine Zahnarztrechnung existenzbedrohlich sein kann.

In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit nicht einmal mehr sparen muss für grössere Anschaffungen wie ein Sofa empfinden es Arme als demütigend, von einem Schaden an einem Haushaltsgerät aus dem Konzept gebracht zu werden.

Fatale Kettenreaktion Armut

Auch um ihre finanzielle Situation zu verbessern, z.B. über Selbständigkeit, müssen finanziell Benachteiligte höhere Hürden nehmen als Menschen, die über ein Polster verfügen. «Arme haben oft keinen Zugang zum Kreditmarkt», schreibt Professor Ernst Fehr, Direktor des Institutes für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich in der Studie «Zur Psychologie der Armut», die er 2014 im Fachblatt «Science» zusammen mit einem Kollegen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) veröffentlichte. Damit ist der Aufbau eines Gewerbes erschwert, denn wer keinen Kredit bekomme auf dem Markt, muss sich Geld anderweitig leihen und bezahlt dafür höhere Zinsen.

«Armut beeinflusst das ökonomische Handeln», ist eine der Schlussfolgerungen von Fehr, dessen Studie aus Analysen unzähliger Armutsstudien der ganzen Welt besteht. Er schreibt von einer Kettenreaktion: Wer arm ist, kommt in Stress, hat Angst. Unter Stress gehen Menschen weniger Risiken ein und denken kurzfristig. Das hält sie davon ab, langfristig zu planen, zu investieren und dadurch grössere Profite zu machen.

Doch Stresshormone haben noch andere negative Auswirkungen: Sie beeinträchtigen die körperliche und psychische Gesundheit. Gemäss dem «World Health Report» von 2003 erkranken weltweit doppelt so viel arme Menschen an Depressionen als gesunde.

Wie kann geholfen werden?

Professor Ernst Fehr und sein Berufskollege vom MIT nennen drei Möglichkeiten, wie Gesellschaften etwas gegen Armut tun können: Erstens über direkte finanzielle Unterstützung. Dies zeigt gemäss ihrer Analyse unmittelbar Wirkung auf die Psyche und das ökonomische Handeln. Ökonomieprofessor und Glücksforscher Bruno S. Frey sagte im August 2017 in einem Interview: «Die Studien sind eindeutig: Wenn ärmere Leute mehr Geld verdienen, steigt ihre Zufriedenheit deutlich.» Die zweite Möglichkeit ist psychologische Unterstützung, die laut der Fehrs Studie auch Nichtdepressiven gegen Stress hilft und ebenfalls das ökonomische Handeln beeinflusst. Die dritte Möglichkeit ist die Unterstützung im Wirtschaften.

Was bedeuten die Erkenntnisse der Armutsforschung für die Diakonie? Wo soll sie einhaken? «Eine flächendeckende, systematische Diskussion wurde in kirchlichen Kreisen bisher nicht geführt über das Thema», sagt Pfarrer Dr. Simon Hofstetter, Geschäftsleiter der Diakonie Schweiz. «Zwar bestehen vielerlei Angebote zur materiellen Förderung Armutsbetroffener, doch die Komplexität der Armutsthematik wird zuweilen übersehen.» Zudem seien in Kirchgemeinden Arme untervertreten in Gremien und Veranstaltungen. Er verweist auf das Buch «Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung» (Verlag W. Kohlhammer), in dem es im Vorwort heisst: «Im Grossen bleibt es allerdings dabei, dass sich die Kirchgemeinden in den mittleren und oberen Milieus der Gesellschaft angesiedelt haben und allein schon deswegen – unbewusst und ungewollt – deutliche Grenzen gegen die Milieus der Armen aufrichten.»

Armut beeinflusst Denken, Handeln und Gesundheit

Soziologe Dr. Ueli Mäder, emeritierter Professor der Universität Basel, der vielfach an der Grenze zwischen Theologie und Soziologie geforscht hat, setzt die Akzente anders. Er fordert von den Kirchen mehr politisches Engagement. «Sie müssen klar Stellung beziehen und den eng geführten Diskursen zur sozialen Ungleichheit etwas entgegen setzen. Sie müssen aufzeigen, was es bedeutet, wenn die Kluft bei den Vermögen auseinander driftet und Zehntausende von Haushalten trotz hundertprozentiger Erwerbstätigkeit kaum auf einen grünen Zweig kommen. Davon sind ja insbesondere auch Kinder betroffen.»

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Zwar seien finanzielle Zuschüsse durch Diakonie durchaus hilfreich, insbesondere um gesundheitliche Unterstützung zu ermöglichen, aber: «Die soziale Sicherheit ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Sie soll nicht vom Goodwill von Kirchen oder Reichen abhängen. Da ist der Staat in die Pflicht zu nehmen.» Dass es sich für den Staat, bzw. für die Gesellschaft lohnen kann, Armut zu bekämpfen, zeigt die Studie von Volkswirtschaftsprofessor Fehr und seinem Kollegen vom MIT. Je weniger Kranke es in einer Gesellschaft gibt und je mehr sie konsumieren und investieren, desto wohlhabender wird sie.

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