Betreuung im Alter: neue Studie richtet Blick auf sozialpädagogischen Ansatz

Betreuung im Alter: neue Studie richtet Blick auf sozialpädagogischen Ansatz

Betreuung im Alter ist eine Kultur, in der alltäglische Begegnungen bewusst gestaltet werden, so die Studie "Gute Betreuung im Alter - Sozialpädagogik konkret" der Hochschule Luzern im Auftrag unter anderem der Paul Schiller Stiftung.

Die vorliegende Studie widmet sich der Frage, wie Betreuung im Alter in stationären Einrichtungen so gestaltet werden kann, dass sie den Bedürfnissen und Lebenslagen älterer Menschen wirklich gerecht wird und eine gute Lebensqualität bis ins hohe Alter fördert. Dabei wird der Blick bewusst auf einen sozialpädagogischen Ansatz gerichtet, der den Menschen und seine Biografie in den Mittelpunkt stellt und nicht allein pflegerische oder medizinische Dimensionen berücksichtigt. Entstanden ist ein umfangreicher Forschungsbericht, der auf Videobeobachtungen in vier ausgewählten Schweizer Institutionen beruht und in mehreren Schritten zentrale Erkenntnisse zu guter Betreuung im Alter herausarbeitet. Er zeigt zugleich auf, wie und warum es in Zukunft einer stärkeren Einbindung von Fachpersonen der Sozialen Arbeit und insbesondere der Sozialpädagogik in Alters- und Pflegeeinrichtungen bedarf. Diese Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis professioneller Betreuung im Alter und beleuchtet, wie stationäre Einrichtungen Lern- und Lebensräume schaffen können, in denen hochaltrige Menschen Teilhabe, Autonomie und soziale Einbindung erfahren.

Der Ausgangspunkt liegt in der Beobachtung, dass die Gesellschaft älter wird und gleichzeitig das professionelle Betreuungsverständnis in vielen Institutionen zu eng gefasst ist. Zwar existieren hervorragende pflegerische Angebote, doch wird oft übersehen, dass die Lebensqualität alter Menschen von deutlich mehr als Pflege allein abhängt. Hier setzt die Studie an: Sie identifiziert jene psychosozialen Leistungen, die abseits des rein Medizinischen und Pflegerischen erbracht werden, und analysiert deren Bedeutung. Dabei wird immer wieder deutlich, dass Begriffe wie Teilhabe, Selbstbestimmung oder Biografiearbeit keine leeren Floskeln sein dürfen, sondern konkret im Alltag ihren Platz finden müssen. Die Forschenden orientieren sich an einem Modell, das vier Leitprinzipien sozialpädagogischen Handelns in den Mittelpunkt stellt: Lebensweltorientierung und Lebensbewältigung, Lebensqualität, Partizipation und Teilhabe sowie Selbstbestimmung und Empowerment. Diese Prinzipien werden nicht abstrakt postuliert, sondern mithilfe der Videobeobachtungen ganz konkret in Alltagsszenen auf ihre Wirksamkeit überprüft.

Im Zentrum des methodischen Vorgehens stand die Videografie. Über mehrere Tage hinweg hat das Forschungsteam Alltagssituationen in vier Institutionen festgehalten, die im Bericht unter den Pseudonymen Gerbera, Wasserlilie, Alpenrose und Osterglocke geführt werden. Jede dieser Einrichtungen unterscheidet sich hinsichtlich Größe, Lage, konzeptioneller Ausrichtung und personeller Zusammensetzung. Die Videokameras wurden an verschiedenen Orten platziert, etwa in Speisesälen, Foyers, auf Korridoren oder in Räumen für Freizeitaktivitäten. In zwei Fällen kamen zusätzlich Bodycams zum Einsatz, die von Mitarbeitenden getragen wurden und spontane Alltagssituationen aus nächster Nähe einfingen. Dieses Vorgehen ermöglichte einen tieferen Einblick in die Interaktion zwischen Fachkräften und Bewohnenden, etwa wenn eine ältere Person auf dem Flur Unterstützung brauchte, ein kleines Gespräch an der Kaffeebar entstand oder ein gemeinsames Singen bei einer Aktivierungsrunde in Gang kam.

Die Stärke dieser Methode liegt vor allem darin, dass sie „den gelebten Alltag“ mit seinen unvorhersehbaren Momenten zeigt und nicht nur die geplanten oder offiziell ausgeschriebenen Aktivitäten. Während beispielsweise ein strukturiertes Bastelangebot oder eine Bewegungsrunde bereits in vielen Institutionen etabliert sind, wurde beim ungezwungenen Plausch zwischen einer Fachperson und einer Bewohnerin oft erst auf den zweiten Blick sichtbar, wie sehr dieser soziale Kontakt das Erleben der älteren Person prägt und wie wertvoll das bewusste, empathische Eingehen auf persönliche Wünsche und Vorlieben sein kann. Solche scheinbar nebensächlichen Situationen erwiesen sich in der Auswertung immer wieder als entscheidend, um die zuvor genannten Prinzipien der Sozialpädagogik umzusetzen: Würde, Autonomie, Teilhabe und Lebensweltorientierung fanden sich oft in kurzen, informellen Begegnungen – sofern Mitarbeitende ausreichend Zeit und eine entsprechende Haltung hatten.

Um das reichhaltige Bildmaterial systematisch zu analysieren, nutzte das Forschungsteam die Dokumentarische Methode. Hier geht es darum, aus den konkreten Szenen nicht nur den expliziten Sinn zu erfassen (etwa „was“ geschieht in der Szene), sondern auch tieferliegende Orientierungen, Haltungen und Routinen herauszuarbeiten („wie“ wird etwas gesagt oder getan, welche ungesagten Normen lenken das Handeln?). So wurden zum Beispiel Dialoge transkribiert und auf Muster hin untersucht, in denen sich die Selbstbestimmung älterer Menschen zeigte oder eben gerade nicht verwirklichen konnte. Auch Mimik, Gestik und räumliche Arrangements spielten eine Rolle, um zu verstehen, ob und wie eine echte Teilhabe gefördert wird oder ob Bewohnende sich eher als Objekte und nicht als Subjekte ihres Alltags erfahren. Gerade an solchen Nuancen, so macht es die Studie deutlich, wird Qualität in der Betreuung sichtbar.

In den Institutionen Gerbera, Wasserlilie, Alpenrose und Osterglocke stießen die Forschenden auf wiederkehrende Themen. Ein zentrales Ergebnis ist, dass Betreuung stärker als „sorgende Beziehung“ verstanden werden sollte, wobei ein Gleichgewicht zwischen unterstützendem Handeln und Respekt vor der individuellen Autonomie entscheidend ist. Der Bericht zeigt mehrere Situationen, in denen Mitarbeitende hochaltrige Personen in Aktivitäten einbeziehen und dabei feinsinnig ausloten, ob und wie viel Anleitung nötig ist, um die Person nicht zu überfordern oder zu bevormunden. Gerade in Momenten, in denen kein offizielles Programm stattfindet, kann soziale Diakonie oder sozialpädagogische Begleitung ansetzen und bei Einsamkeitsgefühlen, Langeweile oder Unklarheiten im Tagesablauf Hilfestellung bieten. Eine Fachkraft, die sich als Alltagsbegleiterin versteht, nutzt ein offenes Zeitfenster, um mit einer Bewohnerin ins Gespräch zu kommen, nach früheren Lebensgewohnheiten zu fragen und so eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu bauen. Solche Episoden bestätigen die Forschungsleitidee, wonach aktivierende Momente nicht aufwendig sein müssen, sondern vor allem Bindung, Sicherheit und Wertschätzung vermitteln sollen.

Besondere Relevanz gewann der Begriff der Lebensweltorientierung. Viele Teilnehmende möchten trotz fortgeschrittenen Alters ihre gewohnten Lebensstile so weit wie möglich aufrechterhalten. Dazu gehört, dass Zeiten des Rückzugs und der Ruhe ebenso akzeptiert werden wie Momente des geselligen Zusammenseins. Die Studie machte deutlich, dass einige Institutionen zwar eine Vielzahl von Freizeit- und Aktivierungsangeboten haben, diese jedoch nicht für jeden Menschen passend sind. Gute Betreuung erkennt daher, dass Nicht-Aktivität ebenfalls ein Recht der Betroffenen ist und dass manche Situationen, etwa spontanes Plaudern auf dem Balkon oder ein ruhiges Verweilen im Foyer, in ihrer alltäglichen Bedeutung unterschätzt werden. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen vergleichbarer Projekte, etwa aus der Forschungsreihe der Paul Schiller Stiftung oder der Studie BASS (2023), in denen ebenfalls herausgestellt wird, dass Betreuung sich stärker an den Ressourcen und Rhythmen der älteren Menschen zu orientieren habe. Bei allen Handreichungen geht es letztlich um Empowerment und den Erhalt von Eigenständigkeit – und damit um ein Selbstbestimmungsrecht, das auch in der Reformierten Sozialdiakonie als zentrales Anliegen verankert ist.

Ebenfalls hervorzuheben sind die Ergebnisse zur Biografiearbeit. Die Studie legt dar, wie wichtig das Wissen um frühere Lebensabschnitte sein kann, um aktuelle Verhaltensweisen zu verstehen und Gespräche individuell zu gestalten. Eine Bewohnerin, die in ihrem bisherigen Leben sehr gesellig und reisebegeistert war, reagiert möglicherweise zutiefst frustriert auf schwindende Mobilität. Wird dies ignoriert, droht Rückzug oder Rebellion. Erkennt eine Fachperson hingegen die Ursache und spricht mit ihr über Reiseerinnerungen oder mögliche kurze Ausflüge in die nähere Umgebung, entsteht ein kooperativer Prozess, bei dem sich die Betroffene ernstgenommen und in ihrer Würde geachtet fühlt. Hier zeigt sich erneut, dass sozialpädagogische Fachpersonen eine bedeutsame Rolle einnehmen können: Nicht nur als freundliche Begleitung, sondern als professionell ausgebildete Beraterinnen und Berater, die auch Konflikte entschärfen oder Krisen mit biografischer Kompetenz auffangen. Diese Doppelung aus Nähe und Fachlichkeit entspricht in hohem Maße dem diakonischen Leitbild vieler reformierter Gemeinden, das immer die personale Zuwendung und die ganzheitliche Förderung des Einzelnen betont.

Ein weiterer bedeutender Punkt ist das partizipative Moment. Die Studie rückt in den Vordergrund, dass selbst kleine Mitsprachegelegenheiten im Heimalltag als zentraler Teil von Teilhabe betrachtet werden können. Das Aushandeln von Essenswünschen, die Entscheidung über Ausflugsziele, die Gestaltung gemeinsamer Aufenthaltsräume oder selbst die Frage, wann das Licht gelöscht wird, sind keine Nebensächlichkeiten. Sie bieten älteren Menschen Erfahrungsräume, in denen das Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben aufrechterhalten oder wiedergewonnen werden kann. Dass dieses Recht auf Teilhabe nicht immer selbstverständlich ist, zeigen einige Videosequenzen: Da werden Menschen, die nicht von sich aus aktiv werden, versehentlich übergangen. Andere werden mit zu vielen Angeboten konfrontiert und sind verwirrt. Exakt hier wären sozialpädagogische Ansätze gefragt, die im organisierten Chaos des Heimalltags eine Balance schaffen, indem sie systematisch Möglichkeiten für Mitsprache und Dialog etablieren. Solche Erfahrungen decken sich auch mit anderen Studien, die zu einer integrativen Betreuung ermutigen, etwa Kricheldorffs Perspektive auf lebensweltorientierte Altenhilfe oder die Bestrebungen in skandinavischen Wohngemeinschaftsmodellen, wo Bewohnerinnen und Bewohner in vielen Bereichen des Alltags Mitverantwortung tragen.

Abgerundet wird die Studie durch zahlreiche Handlungsempfehlungen, die sowohl für praktische Fachkräfte als auch für Leitungs- und Führungsebenen bedeutsam sind. So fordert sie eine konsequentere Trennung von Pflege- und Betreuungsleistungen, auch auf einer finanziellen und administrativen Ebene. Pflege ist für die medizinischen und körperlichen Bedürfnisse zuständig, Betreuung hingegen bezieht den Menschen in seiner psychosozialen Ganzheit mit ein. Dazu zählt die Stärkung des Profils sozialpädagogischer Fachpersonen in stationären Einrichtungen. Die Studie sieht hier einen großen Nutzen, weil diese Berufsgruppe gelernt hat, im Alltag nicht nur zu reagieren, sondern Beziehungen aktiv und wertschätzend zu gestalten, Biografien zu beachten und Gruppenprozesse zu moderieren. Empfohlen wird zudem, diese Kompetenzen breit in die Aus- und Weiterbildungsangebote einzubringen. Es gilt, interdisziplinäre Teams auf Augenhöhe zu etablieren, bei denen die Rollen klar definiert sind, aber alle dasselbe Ziel vor Augen haben: eine würdevolle und bestmögliche Lebensführung der alten und hochaltrigen Menschen.

Im Vergleich zu ähnlichen Untersuchungen wird deutlich, dass sich die vorliegende Studie stark auf jene Facetten konzentriert, die in vielen klassischen Pflege- und Gesundheitsstudien unterrepräsentiert sind. Während medizinische und pflegerische Aspekte oft genaustens untersucht wurden, rückt hier der Blick auf Alltagsinteraktionen, spontane Begegnungen und die psychosoziale Dimension in den Vordergrund. Damit unterstützt die Forschung die Tendenz, die sich auch international in geriatrischen Konzepten immer mehr durchsetzt: Ein gutes Versorgungssystem muss die physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse gleichermaßen berücksichtigen. In diesem Sinne findet man Parallelen zu aktuellen Initiativen in den Niederlanden oder Kanada, wo Seniorenwohnprojekte gezielt mit Gemeinschaftszentren gekoppelt werden und sozialpädagogische Betreuungsansätze fördern, sodass Teilhabe, Lernen und Selbstbestimmung bis ins hohe Alter lebendig bleiben.

Der Bericht nimmt schließlich Bezug auf die Frage, wie sich solche Ansätze vor dem Hintergrund der Reformierten Sozialdiakonie in der Schweiz interpretieren lassen. Soziale Diakonie ist von ihrem Grundverständnis her darauf ausgerichtet, Nächstenliebe und Gerechtigkeit aktiv zu leben und sich für die Bedürfnisse vulnerabler Gruppen einzusetzen. Das diakonische Selbstverständnis betont das Menschenbild, das jedem Individuum Würde und Eigenwert zuschreibt, unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit. Die Studie zeigt auf, wie dieses Ideal in den stationären Alltag einfließen kann, indem man den Menschen seine Biografie, seine Bedürfnisse und seine Autonomie respektiert und fördert. Eine wichtige Erkenntnis lautet, dass sozialdiakonische Arbeit nicht auf Besinnung, seelsorgerliche Gespräche oder punktuelle Nachbarschaftshilfe zu reduzieren ist. Vielmehr sollte sich Diakonie – im Sinne einer Professionalisierung – Methoden aus der Sozialpädagogik zunutze machen, um zum Beispiel partizipative Prozesse zu leiten, Kriseninterventionen zu begleiten oder biografische Ressourcen aktiv zu stärken. In einer Zeit, in der die Zahl hochaltriger Menschen steigt und die Ansprüche an eine würdige Seniorenbetreuung zunehmen, kann sich die Reformierte Sozialdiakonie mit ihrer ethischen Basis als Vermittlerin erweisen, die Brücken zwischen pflegerischer Versorgung, sozialpädagogischem Alltagshandeln und spiritueller Reflexion schlägt.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein Ausblick, der die Zukunft sozialdiakonischer Arbeit im Alter skizziert. Die Studie legt nahe, dass sich Diakoniefachleute in enger Zusammenarbeit mit Pflegekräften, Sozialpädagoginnen, Angehörigen und den Betroffenen selbst engagieren sollten. Zentral ist die Anerkennung der älteren Menschen als Subjekte, die trotz Einschränkungen aktiv am Leben partizipieren wollen. Um dies zu ermöglichen, braucht es vermehrt biografieorientierte Methoden, ressourcenorientierte Förderung, gruppenbezogene Aktivitäten und ein professionelles Verständnis von Begleitung, in dem religiöse und weltanschauliche Fragen Platz haben, aber nicht aufgesetzt werden. Die Erkenntnisse der Untersuchung decken sich hierbei mit der Idee einer ganzheitlichen Seelsorge, die im reformierten Kontext nicht an bestimmte Rituale gebunden ist, sondern sich an den realen Anliegen und Fragestellungen der Menschen orientiert.

In ihrem Fazit kommt die Studie zu dem Schluss, dass gute Betreuung im Alter weit mehr ist als ein Angebot ausgewählter Aktivitäten oder ein punktuelles „Kümmern“. Sie versteht Betreuung als Ausdruck einer Kultur, in der alltägliche Begegnungen, große wie kleine, bewusst gestaltet werden. Social Support, Teilhabe und Wertschätzung sind keine Kür, sondern notwendiger Bestandteil einer lebendigen, lernenden Organisation. Sozialpädagogische Fachpersonen können hier mit ihrer Expertise für Lebensweltorientierung, Biografiearbeit, Krisenbegleitung und Stärkung der Autonomie maßgebliche Impulse setzen. Gerade im Kontext der Reformierten Sozialdiakonie, die die Verbundenheit in Kirche und Gesellschaft anstrebt, entsteht ein reiches Handlungsfeld: Sie kann den Weg ebnen für vernetzte, professionelle und gleichzeitig von Nächstenliebe inspirierte Formen der Begleitung. Über allem steht das Anliegen, alten Menschen im stationären Rahmen ein Höchstmaß an Würde, Sinn und Autonomie zu ermöglichen, damit ihr letztes Lebensdrittel nicht nur verwaltet, sondern achtsam und selbstbestimmt gestaltet wird.

Material