Bundesrat anerkennt Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Jenischen und Sinti

21. Feb. 2025

Der Bundesrat anerkennt, dass die im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» erfolgte Verfolgung der Jenischen und Sinti nach Massgabe des heutigen Völkerrechts als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu bezeichnen ist, so eine Medienmitteilung. Ein Genozid sei es jedoch nicht. Für das begangene Unrecht bekräftigt der Bundesrat gegenüber den Betroffenen die 2013 ausgesprochene Entschuldigung.

Bis 1981 waren in der Schweiz über hunderttausend Kinder und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen, so die Mitteilung des Bundesrates. Die Massnahmen richteten sich demnach gegen Personen, die aus ärmeren Verhältnissen stammten oder deren Lebenswandel nicht der damals akzeptierten gesellschaftlichen Norm entsprach. Dazu gehörten auch Menschen mit fahrender Lebensweise, etwa Jenische und Sinti.

Die Kindeswegnahmen erfolgten primär im Rahmen des «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», eines Programms der Stiftung Pro Juventute, so die Mitteilung weiter. Zwischen 1926 und 1973 hätten die Verantwortlichen des «Hilfswerks», häufig unter Mithilfe der Behörden, rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weggenommen und unter Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien zwangsweise in Heimen, Erziehungsanstalten und bei Pflegefamilien versorgt. Von den Kindeswegnahmen waren auch Sinti betroffen. Erwachsene, die als Minderjährige fremdplatziert worden waren, seien unter Vormundschaft gestellt, in Anstalten untergebracht, mit einem Eheverbot belegt und in Einzelfällen auch zwangssterilisiert worden. Neben Pro Juventute seien auch kirchliche Hilfswerke und Behörden tätig gewesem, so dass von gegen 2000 Fremdplatzierungen ausgegangen werden müsse.

In den 1970er und 1980er Jahren sei diese Praxis zunehmend in die Kritik der Öffentlichkeit geraten. Politische Forderungen nach Aufarbeitung der Vergangenheit seien laut geworden. 1988 und 1992 bewilligte das Parlament demnach auf Antrag des Bundesrates insgesamt 11 Millionen Franken zur Äufnung eines Fonds «zur Wiedergutmachung für die ‘Kinder der Landstrasse’». 2013 bat der Bundesrat alle Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen um Entschuldigung.

Im November 2021 ersuchte die «Union des Associations et des Représentants des Nomades Suisses» (UARNS) den Bund laut Mitteilung um Anerkennung eines Völkermordes (Genozids) an den Schweizer Jenischen und Sinti in Zusammenhang mit dem «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Im Januar 2024 verlangte die Radgenossenschaft der Landstrasse die Anerkennung eines «kulturellen Genozids». Angesichts der Schwere der Vorwürfe habe das EDI beschlossen, unabhängige Experten beizuziehen.

Ein Rechtsgutachten komme zum Schluss, dass die Kindeswegnahmen, die beabsichtigte Zerstörung von Familienverbänden zur Eliminierung der fahrenden Lebensweise und zur Assimilierung der Jenischen und Sinti nach den heute geltenden völkerrechtlichen Standards als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu bezeichnen seien. Der Staat trage dabei nach heutigem Rechtsverständnis eine Mitverantwortung für die begangenen Taten.

Gleichzeitig liege aus rechtlicher Sicht kein (kultureller) Genozid vor, so der Bundesrat. Ein Tatbestand «kultureller Genozid» (Vernichtung der kulturellen Existenz) gebe es im Völkerrecht nicht. Gemäss Rechtsgutachten sei auch kein Genozid im engeren Sinne gegeben, da die dafür notwendige «genozidäre Absicht» (Absicht zur physischen oder biologischen Vernichtung von Menschen) nicht gegeben sei.

Der Bundesrat habe ein Schreiben an die Gemeinschaft der Jenischen und Sinti gerichtet, in der er die Entschuldigung des Bundesrates gegenüber den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bekräftige und betone, dass zu diesen Opfern auch die Jenischen und Sinti gehörten.