Gleichstellungspolitik braucht Zahlen. Dieser scheinbar einfache Satz wird seit Jahren wiederholt, doch die Realität zeigt: Viele Regierungen, Organisationen und Unternehmen haben zwar ein wachsendes Bewusstsein für die Relevanz von Daten, investieren aber häufig nicht genug in deren Erhebung, Aufbereitung und vor allem Nutzung. Das Programm „Women Count“ von UN Women setzt genau hier an. Seit 2016 arbeitet es daran, Lücken in der Datenerhebung zu schliessen, Informationen nutzbar zu machen und politische Entscheidungen auf eine solide, geschlechtergerechte Grundlage zu stellen.
Das Prinzip ist einfach: Wer weiss, wie viele Frauen und Männer in welchen Sektoren arbeiten, wer unbezahlte Pflegearbeit leistet, wer von Gewalt betroffen ist oder wie Klimawandel unterschiedliche Lebensrealitäten beeinflusst, kann gezielt gegensteuern. Die Erhebung dieser Daten ist nicht nur eine Frage von Statistik, sondern eine Frage von Macht und Sichtbarkeit. UN Women formuliert es so: „Diese Daten müssen nicht nur gesammelt, sondern auch genutzt werden, um Veränderungen anzustossen“.
Von der Datenerhebung zum politischen Handeln
Die Wirkung dieser Arbeit zeigt sich in konkreten Veränderungen auf politischer Ebene. Ein Beispiel ist Bangladesch, wo erstmals eine umfassende Zeitverwendungsstudie durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass Frauen mehr als siebenmal so viel unbezahlte Haus- und Pflegearbeit leisten wie Männer. Diese Erkenntnisse führten dazu, dass das Parlament die Zeitverwendungserhebung in den Wirtschaftsplan aufnahm und gesetzliche Massnahmen wie eine Novellierung des Kinderbetreuungsgesetzes einleitete.
In Chile wiederum standen die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie im Fokus. Eine Schnellumfrage zu Erwerbstätigkeit und unbezahlter Arbeit zeigte, dass sich die Doppelbelastung von Frauen massiv verschärft hatte. Daraufhin wurde ein Betreuungszuschuss für erwerbstätige Eltern eingeführt, ausserdem floss das Thema Care-Arbeit stärker in die nationale Gleichstellungspolitik ein.
Auch die Landfrage ist ein zentrales Thema. In Kolumbien belegten Datenerhebungen, dass Frauen trotz ihres Anteils an der ländlichen Bevölkerung nur selten Land besitzen. Mit diesen Daten gelang es, den Entwicklungsplan 2022–2026 um geschlechterspezifische Landreformen zu erweitern und Schulungsprogramme für Landtitelverwaltung mit Genderperspektive einzurichten.
Gewalt sichtbar machen und bekämpfen
Besonders deutlich wird die Kraft von Daten beim Thema Gewalt. In Albanien führte eine nationale Erhebung zu einer grundlegenden Gesetzesreform: psychische Gewalt und Dating-Gewalt wurden erstmals rechtlich anerkannt. In Tansania sorgte die Einführung regelmässiger Datenberichte zu geschlechtsspezifischer Gewalt dafür, dass Radiostationen wie Tumbatu FM und Kati Radio das Thema regelmässig aufgriffen. Dadurch stieg die Zahl der Anzeigen um 28 Prozent. Die Daten werden heute genutzt, um Polizei zu schulen, geschützte Anlaufstellen einzurichten und Präventionsprogramme umzusetzen.
In Georgien war es eine Erhebung zur Gewalt gegen Frauen, die nicht nur Gesetzesänderungen nach sich zog – darunter ein Gesetz gegen sexuelle Belästigung –, sondern auch ein Umdenken in der Privatwirtschaft bewirkte: Ein Finanzinstitut spendete daraufhin Geld und Sachmittel an Frauenhäuser und sensibilisierte seine Mitarbeitenden für das Thema.
Umwelt und Klima: Geschlechterperspektive als Erfolgsfaktor
Auch im Bereich Umwelt- und Klimapolitik leisten Genderdaten einen Beitrag. Tonga führte erstmals eine Gender- und Umwelterhebung durch. Die Ergebnisse zeigten, dass Frauen stärker von psychischen Belastungen, Einkommensverlusten und erhöhter Care-Arbeit betroffen sind. Diese Erkenntnisse beeinflussten nicht nur den Katastrophenschutz, sondern führten auch zu einer Überarbeitung der nationalen Gleichstellungspolitik. In Samoa und Tansania wurden ähnliche Erhebungen genutzt, um den Einsatz energiesparender Kochtechnologien und gendergerechte Klimafinanzierung voranzubringen.
Europa im Vergleich: Schweiz, Deutschland, Österreich und Frankreich
Im europäischen Kontext zeigt sich ein differenziertes Bild. Laut Eurostat leisten Frauen in der EU im Schnitt 13 Stunden pro Woche mehr unbezahlte Haus- und Pflegearbeit als Männer. In der Schweiz ist das Verhältnis ähnlich: Frauen leisten gemäss Bundesamt für Statistik rund 60 Prozent mehr unbezahlte Arbeit als Männer, vor allem in der Kinderbetreuung und der Pflege von Angehörigen. Deutschland verzeichnete laut dem Zweiten Gleichstellungsbericht 2024 eine leichte Reduktion der Ungleichheit, während Österreich und Frankreich ähnliche Werte aufweisen.
Was in der Schweiz besonders hervorsticht, ist die Rolle der Sozialdiakonie. Zahlreiche diakonische Organisationen bieten niederschwellige Unterstützung für pflegende Angehörige, fördern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und setzen sich für Betroffene von häuslicher Gewalt ein. Die Sozialdiakonie in der Schweiz betreibt Beratungsstellen, begleitet Betroffene im rechtlichen und sozialen Bereich und engagiert sich politisch für einen besseren Zugang zu Hilfsangeboten. Diese Arbeit zeigt, dass die Verknüpfung von Daten, sozialem Engagement und kirchlich-diakonischer Praxis zu spürbaren Verbesserungen im Alltag führen kann.
Daten im Zeitvergleich: Fortschritte und Herausforderungen
Im Vergleich zu vor zehn Jahren hat sich die Verfügbarkeit von Genderdaten deutlich verbessert. Programme wie „Women Count“ haben dazu beigetragen, dass heute mehr Länder Zeitverwendungsstudien, Gewaltprävalenzstudien oder Umweltumfragen mit Genderperspektive durchführen. Dennoch bestehen weiterhin Lücken, insbesondere bei Daten zu Intersektionalität, also zur Überschneidung von Geschlecht mit anderen Faktoren wie Behinderung, ethnischer Herkunft oder Alter.
Die grosse Herausforderung bleibt die Umsetzung: Daten liegen oft vor, doch werden sie nicht konsequent in politische Entscheidungen übersetzt. Hier setzen Initiativen wie Women Count an, indem sie gezielt auf Nutzbarkeit und politische Verbindlichkeit achten.
Die Arbeit von UN Women und Partnerorganisationen wird in den kommenden Jahren fortgesetzt und erweitert. Phase drei des Programms Women Count, die 2026 starten soll, wird voraussichtlich neue Schwerpunkte auf digitale Datenplattformen und Bürgerbeteiligung setzen. Angesichts der globalen Krisen – von Klimawandel über Migration bis hin zu Konflikten – ist die Bereitstellung und Nutzung von Genderdaten wichtiger denn je, um gesellschaftliche Resilienz und Gleichstellung nachhaltig zu fördern.
