Mehr als 9’000 Menschen haben sich in Deutschland 2021 das Leben genommen, so die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Alena Buyx während der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Stellungnahme. Die Zahl der versuchten Suizide und noch mehr der suizidalen Krisen sei um ein vielfaches höher.
Das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, in dem es den 2015 geschaffenen Straftatbestand der geschäftsmässigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärte, stelle Politik und Gesellschaft vor grosse Herausforderungen im Umgang mit dem assistierten Suizid und dessen Regulierung, so Buyx.
Mit der aktuellen Stellungnahme betone der Ethikrat vor allem die Bedeutung der Suizidprävention. Man wolle ein angemessenes Bewusstsein für die Weite und Vielschichtigkeit des Phänomenbereichs der Suizidalität schaffen. Gleichzeitig wolle man einseitigen Zuschreibungen wie dem verdammenswürdigen Selbstmord oder dem heroischen Bilanzfreitod entgegenwirken.
Staat und Gesellschaft hätten nicht das Recht, Menschen gegen ihren Willen an der Verwirklichung freiverantwortlich getroffener Suizidentscheidungen zu hindern, so Buyx weiter. Aber der Respekt vor freiverantwortlich getroffenen Suizidentscheidungen dürfe nicht bedeuten, dass der Gesellschaft Suizide egal sein dürften. Auch seien Entscheidungen für einen assistierten Suizid nicht nur eine Privatangelegenheit von suizidalen Personen.
In aller Regel gehe ein längerer Prozess innerer und äusserer Einengungen und Belastungen den Suizidgedanken voraus. Neben individuellen Faktoren nähmen auch die soziale und gesellschaftliche Umwelt Einfluss auf Suizidgedanken und deren Entwicklung.
Einschränkungen und Belastungen könnten so stark dominieren, dass Suizidgedanken sich verfestigten und kein Lebenswunsch mehr empfunden werde. Besondere Bedeutung für das Suizidrisiko haben psychische und insbesondere tiefgreifende depressive Störungen, so der Ethikrat.
Die Entwicklung und Umsetzung von Suizidgedanken sei im Kontext der Beziehungen zur sozialen Umwelt zu betrachten. Isolation und Einsamkeit sowie die Überzeugung, nicht mehr dazuzugehören, bildeten ebenfalls Risikofaktoren für Suizidalität. Auch Erschöpfung, Lebensmüdigkeit und Lebenssattheit könnten dem Wunsch nach einem assistierten Suizid zugrunde liegen. In diesen Haltungen manifestierten sich innere und äußere Problemlagen, in denen Lebensbindungen zurückgingen.
Die Dynamik von Suizidgedanken und suizidalen Handlungen unterstreiche die Bedeutung einer Suizidprävention, die mögliche Risikofaktoren angemessen in den Blick nehme, so der Ethikrat.
Dennoch sei eine freiverantwortliche Entscheidung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts zu respektieren, auch dann, wenn es um die Beendigung des eigenen Lebens gehe. Aufgrund ihrer Irreversibilität müssten freiverantwortliche Suizidentscheidungen jedoch einem besonders hohen Maß an Selbstbestimmung genügen. Das setze eine hinreichende Kenntnis der entscheidungserheblichen Gesichtspunkte und die Fähigkeit voraus, diese Punkte ausreichend und realitätsbezogen zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ebenso brauche es eine hinreichende Überlegtheit, Festigkeit und Eigenständigkeit der Entscheidung.
Die Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit der betroffenen Person dürften jedoch nicht den Verfügungsspielraum über ihr Leben nehmen, so der Ethikrat. Dies entlaste Staat und Gesellschaft aber nicht von der Verantwortung, so weit wie möglich dafür Sorge zu tragen, dass Menschen nicht in Situationen gerieten und verblieben, in denen sie sich genötigt sähen, den Tod als vermeintlich kleineres Übel dem Leben vorzuziehen.
Bei der Suizidprävention gehe es dementsprechend vor allem um die Vermeidung solcher Lebenslagen, in denen sich Menschen genötigt fühlten, einer zumindest subjektiv als unerträglich erlebten Lebenssituation durch Suizid ein Ende zu setzen. Dabei unterscheidet der Ethikrat drei Grundtypen miteinander: Die allgemeine Prävention zielt demnach auf die Gesamtbevölkerung und beabsichtigt über Aufklärungskampagnen, niederschwellige Beratungs‐ und Kontaktangebote oder allgemeine Strategien einem suizidalen Verlangen vorzubeugen. Die selektive Prävention konzentriert ihre Angebote auf Gruppen mit einem typischerweise signifikant erhöhten Suizidrisiko. Die indizierte Prävention fokussiert einzelne Personen, bei denen in Folge unterschiedlicher Begebenheiten oder Ereignisse eine unmittelbare Suizidgefährdung offenkundig ist.
Die Verantwortung von Einrichtungen sehe der Ethikrat vor allem darin, ihre Angebote konsequent an den Zielen der Suizidprävention zu orientieren und Lebensbedingungen zu stärken. Sollte sich der Suizidwunsch zu einem festen, freiverantwortlichen Willen verdichten, könne Suizidassistenz angeboten werden. Einrichtungen sollten ihr Leitbild um Überlegungen zur Sterbekultur weiterentwickeln. So machten sie transparent, ob und gegebenenfalls wie in ihrem Haus mit Suizidassistenz umgegangen werde, so die Mitteilung.
Die staatliche Verantwortung erstrecke sich darüber hinaus auf die Kontrolle der Erreichbarkeit von Mitteln zum Suizid sowie auch die Verbesserung von und Auseinandersetzung mit den Faktoren für psychische und mentale Gesundheit von Bürgerinnen und Bürgern – vor allem bei Gruppen, in denen die psychische Gesundheit besonders prekär sei, so der Ethikrat. Gezielte staatliche Programme und Initiativen anderer gesellschaftlicher Institutionen, die Versorgung in diesen Bereichen auszubauen, könnten allgemein präventiv wirken.
Auch eine verantwortungsbewusste mediale Berichterstattung über Risikofaktoren und Formen der Suizidalität, wie sie bereits in einschlägigen Pressekodizes gefordert werde, könne mit Blick auf die Suizidprävention nicht hoch genug bewertet werden. Zu einer solchen Berichterstattung gehöre auch der Hinweis auf einschlägige Hilfsangebote.
Gesamtgesellschaftliche und staatliche Institutionen stünden demgegenüber vor allem in der Verantwortung, eine umfassende Suizidprävention zu ermöglichen. Nur wenn alle beteiligten Akteurinnen und Akteure sich vernetzten, könne es gelingen, Personen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen und den anspruchsvollen Anforderungen an freiverantwortliche Entscheidungen Rechnung zu tragen.
Schliesslich müssten die Strukturen der Suizidprävention gestärkt und eine angemessene, dauerhafte und verlässliche Finanzierung sichergestellt werden. Eingeschlossen sein müsse die Gewährleistung von personellen Ressourcen spezifisch ausgebildeter Professionen ebenso wie eine Förderung der Interventionen und entsprechenden Kompetenzen, so der Ethikrat. Diese Regelfinanzierung müsse auch verstärkt praxisorientierte Angebote der Aus‐ und Weiterbildung einschließen.