Die im Jahr 2025 erschienene Schrift «Christliche Perspektiven für unser gesellschaftliches und politisches Miteinander. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)» will Orientierung bieten in einer Zeit, die von Unsicherheiten, vielschichtigen Krisen und einer wachsenden Anfälligkeit für einfache Parolen geprägt ist. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein eher kurzes Dokument, doch entfaltet es einen breiten Horizont: Es will eine theologische Grundlegung für einen konstruktiven Umgang mit Populismus, Polarisierung und Angst geben und zugleich ermutigen, den demokratischen Prozess aktiv mitzugestalten. Die Autorinnen und Autoren verweisen wiederholt auf die christliche Tradition, die in ihrer Kernaussage «Fürchtet euch nicht» eine Offenheit für den anderen Menschen in den Mittelpunkt stellt, und zwar selbst dort, wo das Gegenüber Misstrauen oder Ressentiment hegt. Das Wort des Rates der EKD betont dabei die Geisteshaltung, mit der Christinnen und Christen den Herausforderungen unserer Zeit begegnen können, sowie die politische Verantwortung, die sich aus dem christlichen Glauben ergibt. Bei genauerer Lektüre zeigt sich, dass die hier dargelegten Thesen und Einsichten weit über ein innerkirchliches Plädoyer hinausreichen und gerade in einer pluralen Gesellschaft zum gemeinsamen Nachdenken und Handeln einladen.
Das Dokument beginnt mit einem Vorwort, das die gegenwärtige Lage skizziert. In einer Welt, die sich rasch und oft bedrohlich zu verändern scheint, fühlen sich viele Menschen verunsichert, nicht selten auch von einer diffuse Angst begleitet. Genau hier setzten nach Ansicht der EKD jene politischen Strömungen an, die man gemeinhin «populistisch» nennt. Diese versprechen einfache Lösungen, zeichnen jedoch in der Regel bedrohliche Zukunftsszenarien, wodurch Unsicherheit noch verstärkt wird. Die EKD formuliert den Gegenakzent in einer dreifachen Ausrichtung: Sie plädiert für eine Besinnung auf Vernunft, Mitgefühl und eine Haltung der Verantwortung.
Im Hauptteil folgen Überlegungen, die sich in fünf thematische Linien gliedern. Erstens hebt der Text hervor, dass Populismus immer auch ein Geschäft mit der Angst ist. Wo man Angst sät, da gedeihen vereinfachte Feindbilder und Apokalyptik, die schliesslich «Retterfiguren» in Position bringt. Die EKD kontert mit dem biblischen Ruf «Fürchtet euch nicht», welcher das Gegenmodell zu Panik und Kurzschlusshandlungen bilde.
Zweitens richtet sich der Blick auf den Menschen als Gottes Ebenbild. In einer christlich geprägten Perspektive ist jede Person gleichermassen mit Würde ausgestattet, ungeachtet ihrer Herkunft, Religion, Orientierung oder gesundheitlichen Verfassung. Diese Blickrichtung stellt sich ausdrücklich gegen ein «Wir und die anderen», das Populistinnen und Populisten gezielt nutzen, um Sündenböcke zu konstruieren. Zwar ist es selbstverständlich, dass wir Menschen uns zuerst jenen zuwenden, die uns nahe sind, doch das Dokument der EKD betont, dass es vor Gott keinen legitimen Grund gibt, Menschen aus einer Gesellschaft hinauszudrängen. Damit widerspricht die EKD einer Politik, die auf Ausgrenzung und Abschottung setzt, aus christlicher Sicht fundamental. Zugleich erinnert die Schrift daran, dass bei allem Eintreten für Offenheit ein kluger Umgang mit den realen Problemen nötig ist. Die Würde der Schwächsten und Marginalisierten dürfe jedoch niemals verhandelbar sein.
An dritter Stelle wirbt das Dokument für einen Dialog, der Differenzen aushält und gerade in der Auseinandersetzung reifen kann. Wer behauptet, das einzige «wahre Volk» zu sein, wie es rechtspopulistische Bewegungen tun, verletzt die Idee der Demokratie, weil eine pluralistische Gesellschaft ein Nebeneinander unterschiedlicher Standpunkte voraussetzt. Christinnen und Christen, so die Verfasserinnen und Verfasser, sollten nicht vorschnell das Gespräch abbrechen, selbst wenn das Gegenüber eine abweichende, womöglich schroff ablehnende Meinung hat. Allerdings muss ein Minimalkonsens gewahrt bleiben, nämlich die gegenseitige Anerkennung von Würde und die Zurückweisung jeder Form menschenverachtender Äusserungen. Sollte die andere Seite kategorisch daran festhalten, Menschen blosszustellen oder zu erniedrigen, zieht auch das Wort der EKD eine Grenze. Jedoch betont es die Möglichkeit, einen konstruktiven Austausch zu suchen, sobald eine Basis des Respekts vorhanden ist. Dieses Aushalten von Spannungen gehört nach christlichem Verständnis zur Nächstenliebe, weil es wahrnimmt, dass Feindbilder durchbrochen werden können, sobald persönlicher Kontakt und echter Dialog entstehen.
In direkter Fortsetzung ist viertens von der «Fähigkeit zur Selbstkritik» die Rede. Damit ist einerseits gemeint, dass Christinnen und Christen ihr eigenes Verhalten prüfen sollen: Spreche ich tatsächlich mit jenen, deren Meinung ich kritisiere, oder spreche ich nur über sie? Wie viel Raum gewähre ich in meinem persönlichen Umfeld einem offenen Wort, selbst wenn es mich in Frage stellt? Andererseits verweist die EKD auf die Notwendigkeit, im Ringen um die bessere politische Lösung weder sich selbst absolut zu setzen noch von anderen eine bedingungslose Anpassung zu verlangen. Ein zentrales christliches Motiv ist, dass wir vorläufige Wesen sind. Unsere Handlungen bleiben stets bruchstückhaft, weil wir nicht allwissend oder fehlerfrei sind. Daraus folgt der Aufruf, sich vorsichtig, tastend, aber durchaus leidenschaftlich in den demokratischen Prozess einzubringen.
Fünftens wird im Dokument die Bedeutung von verantwortungsvollen Kompromissen unterstrichen. Die EKD macht deutlich, dass das konkrete Ringen um Lösungen zum Kernbestand demokratischer Prozesse gehört. Unsere Welt ist komplex, es gibt keine einfachen Antworten, weder bei der Klimakrise, noch in Migrationsfragen, noch in Fragen sozialer Gerechtigkeit. Populismus liebt hingegen die Dramatisierung und den lauten Ruf nach radikalen Massnahmen. Das kirchliche Wort nennt diese vermeintlichen «einfachen» Ansätze unzureichend. Ein Kompromiss ist nicht Ausdruck von Schwäche, sondern ein Zeichen verantwortlichen Ausgleichs zwischen unterschiedlichen legitimen Interessen.
Im abschliessenden Teil geht das Dokument nochmals auf die Haltung ein, mit der wir anderen begegnen sollten. Es betont, dass Menschen, die Verschwörungserzählungen anhängen oder mit Ressentiments auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, oft eine tiefe Kränkung oder Ohnmacht empfinden. Der Text nimmt Bezug auf Friedrich Nietzsches Begriff des Ressentiments und deutet ihn als psychischen Mechanismus, bei dem man für das eigene Unbehagen einen Sündenbock sucht. Rechtspopulistische Bewegungen greifen dieses Ressentiment auf, um sich als Anwalt der «Ohnmächtigen» zu inszenieren. Eine christliche Haltung nähere sich fragend, nicht belehrend, so die EKD. Diese Grundhaltung der Offenheit macht laut EKD erst ein zukunftsträchtiges Miteinander in Vielfalt möglich.
Wenn wir die Ergebnisse der Schrift mit den Erkenntnissen vergleichbarer Studien und kirchlicher Positionspapiere zum Thema Demokratie und Populismus vergleichen, so zeigt sich zunächst eine grosse Übereinstimmung in der Diagnose. Sowohl wissenschaftliche Untersuchungen als auch kirchliche Stellungnahmen aus verschiedenen Ländern beschreiben dieselbe Dynamik: Populistische Bewegung speist sich oft aus dem Gefühl, dass eigene Interessen vernachlässigt werden, aus Angst vor Fremdem und dem Verlust von Identität. Internationale Studien, beispielsweise aus dem Umfeld der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen oder der Konferenz Europäischer Kirchen, bestätigen die Notwendigkeit, sich nicht nur moralisch zu empören, sondern nach konkreten Wegen zu suchen, betroffene Menschen abzuholen und einzubinden. Die EKD-Schrift knüpft daran an, indem sie die Thematik theologisch vertieft und mit zentralen biblischen Motiven verknüpft.
Gerade vor dem Hintergrund reformierter Sozialdiakonie in der Schweiz erhält das EKD-Wort eine weitere Dimension. Die Reformierten Kirchen in der Schweiz legen traditionell starken Wert auf Gemeindearbeit, die sich an den konkreten Nöten vor Ort ausrichtet. Sozialdiakonische Arbeit zielt hier oft auf niederschwellige Unterstützung, darauf, Gemeinschaftsgefühl zu stärken und Menschen Gehör zu verschaffen, die sonst übersehen werden. Wenn wir die Grundsätze des EKD-Wortes anwenden, wird deutlich, dass sozialdiakonisches Handeln eine Brücke sein kann, um Spaltungen in einer polarisierten Gesellschaft zu verringern. Gerade weil die reformierte Tradition eine gewisse Skepsis gegenüber vorschnellen Bekenntnissen kennt und stattdessen die «Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen» in den Mittelpunkt stellt, lässt sich an das Plädoyer der EKD gut anknüpfen.
Die Studie impliziert zudem, dass sozialdiakonische Arbeit sich künftig noch stärker darauf konzentrieren sollte, Ohren und Augen offen zu halten für Menschen, die sich in eine vermeintliche Opferrolle zurückgezogen haben. Oft erleben wir ältere oder verunsicherte Gemeindemitglieder, die nicht mehr wissen, wie sie mit den Umbrüchen unserer Zeit zurechtkommen sollen. Hier ist ein diakonischer Ansatz gefragt, der nicht schulmeisterlich, sondern einladend fragt: «Was quält dich, und wie können wir dich unterstützen?» Auch in der Schweiz melden sich Stimmen, die angeben, sie fühlten sich entfremdet vom politischen System. Die reformierte Sozialdiakonie könnte diese Menschen nicht nur karitativ, sondern auch partizipativ begleiten, indem sie in offenen Gesprächskreisen oder in Workshops politisches Verständnis fördert und den Einzelnen ermutigt, sich einzubringen.
Insgesamt lässt sich sagen, dass das Wort des Rates der EKD auf verhältnismässig wenigen Seiten eine theologische Grundsatzerklärung formuliert, die zutiefst politische Relevanz hat. Es betont, dass Christinnen und Christen an der Seite aller Menschen stehen und mithelfen sollten, gesellschaftliche Fragen pragmatisch, gerecht und mit Blick auf die Schwächsten zu lösen. Die Aufrufe, das Gespräch zu suchen, Kompromisse zu schliessen, sich selbst stets zu überprüfen, die Perspektive der Benachteiligten einzunehmen und Angst nicht das letzte Wort zu lassen, sind Eckpfeiler eines christlichen Politikverständnisses, das durchaus ökumenische Resonanz finden kann. In der Schweiz, wo die reformierten Landeskirchen in vielen Bereichen eine ähnliche Grundhaltung pflegen, könnte dieses Dokument dafür sensibilisieren, dass Populismus auch in scheinbar gesicherten Verhältnissen gedeihen kann, wenn Menschen sich unverstanden und übergangen fühlen. Es weist aber ebenso darauf hin, wie eine von sozialdiakonischer Arbeit geprägte Gemeindekultur solchen Tendenzen vorbeugen kann: durch mitmenschliche Zuwendung, durch das Bestärken demokratischer Werkzeuge, durch die Bereitschaft, sich unter Gottes Anrufung selbst zu korrigieren.