Individualisierung kollektiver Risiken
Die neue Krankheit Burn-out beschreibt menschliche Zustände wie etwa Erschöpfung, Angst und Schlafstörungen, die als Kehrseite unserer Arbeitswelt gelten. Die verletzliche Seite des Menschen, auch seine Leistungsgrenze, wird mit der Definierung «burn out» zu etwas erklärt, das therapiert werden muss. Die Arbeitskultur wird kaum in Frage gestellt.
Der Konsum von Prozac hatte 2004 in Grossbritannien derart zugenommen, dass das Antidepressivum im Trinkwasser nachweisbar war. In der Schweiz verzeichnet die Invalidenversicherung psychische Erkrankungen an erster Stelle der Neuberentungen. Die im Jahr 2003 vom Staatssekretariat für Wirtschaft SECO herausgegebene Stress-Studie schätzt die Arztkosten und Kosten wegen Produktionsausfällen aufgrund von Stress-Leiden auf etwas mehr als vier Milliarden Franken, was ungefähr 1,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes BIP entspricht.Das sind deutliche Anzeichen. Aber worauf weisen sie hin?
Seit geraumer Zeit werden psychische Belastungsund Krankheitsphänomene im beruflichen Kontext unter dem Titel «Burn-out» diskutiert. Der US-amerikanische Psychoanalytiker Herbert J. Freudenberger verwendet den Begriff erstmals 1974, um spezifische berufsbedingte Stress-Symptome zu beschreiben, die er bei sich und seinen Mitarbeitenden beobachtet hatte. Er nennt neben Symptomen der Erschöpfung, Ermüdung, des Motivationsverlusts und somatischen Beschwerden, ein aggressives Verhalten und eine zynisch-abwertende Haltung gegenüber dem Umfeld bei gleichzeitigem Misstrauen, paranoiden Vorstellungen und sozialem Rückzug.
Psychische Phänomene lassen sich häufig nicht so einfach und eindeutig diagnostizieren wie ein Beinbruch. Das prägt unsere Einstellungen dazu: Ein Beinbruch ist Unglück, eine psychische Erkrankung gilt in den Augen vieler als persönliche Niederlage oder gar als charakterliches Defizit. Auch die Betroffenen haben ihre gesellschaftliche Lektion gut gelernt: «Reiss dich zusammen!» – Und genau damit fangen häufig die Probleme an. Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zählt in einer Publikation von 2007 eine Reihe gesundheitsgefährdender Faktoren auf: Unsichere Arbeitsverhältnisse auf einem instabilen Arbeitsmarkt, Globalisierungsrisiken, neue Formen von Arbeitsverträgen, Gefühl von Arbeitsplatzunsicherheit, lange Arbeitszeiten, Intensivierung der Arbeit, schlanke Produktion und Outsourcing, hohe emotionale Anforderungen bei der Arbeit, unzureichende Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.
Burn-out gibt es in allen Berufen
Die Ursachen sind bekannt und figurieren unter den Überschriften «Individualisierung», «Flexibilisierung», «Eigenverantwortung». «Eigenverantwortung» bedeutet in einer globalisierten Wirtschaft die Bereitschaft zu Beweglichkeit und Anpassung an die beruflichen Herausforderungen. Wer diesen Anforderungen und Belastungen nicht gewachsen ist, entwickelt Krankheitssymptome, wie sie unter anderem als «burn out», «ausbrennen», beschrieben werden. Bezeichnenderweise lassen sich diese Symptome nicht nur bei einer einzelnen sozialen Gruppe oder in bestimmten Berufen beobachten: Von Burn-out-Symptomen sind Managerinnen genauso betroffen wie Lehrer, Pflegepersonal wie Ärzte, Akademikerinnen wie Arbeiter.
Hinter diesen Beobachtungen verbirgt sich ein allgemeiner Zusammenhang: die Verlagerung gesellschaftlicher Risiken auf den einzelnen Menschen. Selbstverantwortung ist der Preis für persönliche Freiheit. Das zeigen beispielhaft die gesundheitspolitischen Diskussionen um gestaffelte Krankenkassenprämien abhängig vom Nikotinkonsum, Körpergewicht, betriebenen Risikosportarten oder von der Präventionsdisziplin. Je mehr das Individuum von sozialen Pflichten entbunden wird, desto weniger kann das Individuum umgekehrt Ansprüche auf die Solidarität der anderen erheben. Ohne Pflichten keine Rechte.
Burn-out-Symptome können nicht von der psychosomatischen Konstitution der Person getrennt werden, die darunter leidet. Die Belastungsgrenzen von Menschen hängen von vielen Faktoren ab und sind ungleich verteilt. Aber folgt daraus, dass die spezifische Konstitution eines Menschen dessen Burn-out verursacht hat? Das wäre allenfalls die halbe Antwort. Denn die Forderungen, die jemand an sich selbst richtet, bilden die Innenseite der Erwartungen, die von aussen an die Person herangetragen werden. Die Last besteht viel weniger in den beruflichen Anforderungen selbst, als in dem Druck, diesen Erwartungen genügen zu müssen, dem gesellschaftlichen Leistungsniveau zu entsprechen und sich dadurch soziale Anerkennung zu sichern.
Neugestaltung der Arbeitenden
Die Arbeitsrisiken haben sich in den letzten gut hundert Jahren grundlegend verändert: Anstelle körperlicher rücken psychische Gefährdungen zunehmend in den Vordergrund. Das ist mehr als bloss eine Verschiebung vom Körper auf die Seele. Ging es im Zuge der Industrialisierung um eine humane Neugestaltung der Arbeit, steht heute die Neugestaltung der Arbeitenden auf dem Programm. Zugespitzt: Bestand das Problem früher in der Fremdausbeutung der physischen Arbeitskraft, geht es heute um die psychische und mentale Selbstfunktionalisierung auf einem globalen Markt.
Der mögliche Einwand an dieser Stelle, dass Menschen doch frei seien, sich diesen Erwartungen zu stellen oder zu verweigern, zeigt nur, wie perfekt die Spielregel der Internalisierung gesellschaftlicher Forderungen funktioniert. Noch prekärer ist dabei die Rehabilitierung eines alten diskriminierenden Märchens, das heute umgekehrt erzählt wird. Sein Titel: «Vom Millionär zum Tellerwäscher». Sein Inhalt: «Es liegt an Dir (an Deinem Willen, Engagement oder Deiner Belastbarkeit), wenn Du es nicht schaffst, oben zu bleiben.»
In der Konsequenz heisst das: Wer es nicht schafft, konstant Leistung zu bringen, ist krank. Dies legt jedenfalls die Krankheitsdefinition von Burn-out nahe. Ist die «Erfindung» der Krankheit 1974 nicht im Grunde Ausdruck des gesellschaftlichen Anpassungsdrucks? Wird Gesundheit nicht auf eine Fitness reduziert, die sich in der erwarteten Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz zeigt?
Auffällig in den Debatten um Burn-out ist das Fehlen der längst bekannten sozialmedizinischen Einsicht, wonach Verhaltensprävention ohne Verhältnisprävention wirkungslos bleibt. Der Umgang mit Burn-out-Patientinnen und -Patienten bestätigt die Tendenz, den ökonomischen und gesellschaftlichen Anpassungsdruck der einzelnen Person aufzubürden. So wird ihnen zum Beispiel auf vielen Webseiten Stressmanagement, Zeitmanagement, Meditation und Bewegung in der freien Natur empfohlen. Die Frage, ob die Arbeitsverhältnisse für die betroffene Person angemessen sind, steht nicht im Zentrum.
Sind die Arbeitsverhältnisse angemessen?
Ist das, was von den Menschen permanent gefordert wird, auch das, was den Menschen als Menschen entspricht? Diese Frage steht im Zentrum der Wirtschaftsethik von Arthur Rich. Der Zürcher Theologe und Ethiker formuliert in seinem ethischen Hauptwerk mit der Suche nach dem «Menschengerechten» eine Aufgabe, denen sich kirchliche Diakonie und Seelsorge im Umgang mit Burn-out-Kranken zu stellen hat. So sehr Betroffene die seelsorgerlichen Angebote der Kirchen brauchen, so wenig dürfen sich Kirchen auf Wiederherstellungsstrategien beschränken. Vielmehr haben sie die grundlegende Einsicht protestantischer Ethik im 20. Jahrhundert fruchtbar zu machen, dass keine Person unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen existiert, die sie prägt und herausfordert sowie fördern und schädigen kann. Ein gesundes Leben braucht ein heilsames soziales Umfeld in menschengerechten gesellschaftlichen Strukturen. Das Burn-outSyndrom ist so gesehen ein Symptom für den Zustand unserer Arbeitskultur und -verhältnisse.
Wie weit der Leistungsdruck inzwischen geht, zeigt die zunehmende Verwendung des eingangs erwähnten Antidepressivums als leistungsförderndes Mittel. An US-amerikanischen Universitäten wird deshalb überlegt, Dopingtests vor Prüfungen einzuführen, weil die steigende Einnahme von Prozac eine gerechte Beurteilung der Prüfungsleistungen längst in Frage stellt.