Jetzt Zeitgutschrift, später Betreuung: Die vierte Säule stellt sich auf.

Jetzt Zeitgutschrift, später Betreuung: Die vierte Säule stellt sich auf.

Wer heute Zeit investiert, um Betagte zu betreuen, kann später selbst von Unterstützung profitieren. Seit einigen Jahren existieren solche Zeitgutschriftsysteme, die sich selbst als die vierte Säule der Altersvorsorge bezeichnen. Dies hat Auswirkungen auf die traditionelle Freiwilligenarbeit.
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Jetzt Zeitgutschrift, später Betreuung: Die vierte Säule stellt sich auf.

Wer heute Zeit investiert, um Betagte zu betreuen, kann später selbst von Unterstützung profitieren. Seit einigen Jahren existieren solche Zeitgutschriftsysteme, die sich selbst als die vierte Säule der Altersvorsorge bezeichnen. Dies hat Auswirkungen auf die traditionelle Freiwilligenarbeit.

Die Schweiz altert. Die 50-jährigen Frauen und Männer bilden heute die grösste Gruppe. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren dies noch die Neugeborenen. Und jünger als 30 ist heute nur noch knapp ein Drittel.

Das Stichwort der Altersvorsorge ist also aus mehrerlei Hinsicht wichtig. Die monetäre Frage ist die eine, die von zwischenmenschlicher Versorgung und Betreuung eine andere. Für beide gilt: es wird künftig weniger junge und mehr alte Menschen geben. So oder so werden also immer weniger immer mehr zu versorgen haben. Herausfordernd wird dies auch, weil der Wunsch, in den eigenen vier Wänden alt zu werden, immer bedeutender wird.
Zeitgutschrift

Die vierte Säule

Das Konzept der vierten Säule bietet hier einen interessanten Lösungsansatz. Die Idee dahinter ist ganz einfach: Senioren unterstützen Betagte. Die geleistete Zeit können sie einlösen, wenn sie selber auf Hilfe angewiesen sind. Ein Zeitvorsorgekonto sozusagen.
Keep it small and simple, oder kurz Kiss-Schweiz, hat sich diesem Prinzip verschrieben. Wer sich engagieren will, kann sich bei einer lokalen Genossenschaft melden, von denen es mittlerweile mehr als zehn gibt. Vor einem Einsatz wird geklärt, welche Leistungen man erbringen kann und will. Betreuungserfahrung ist nicht nötig. Gibt es eine betreuungsbedürftige Person, die entsprechende Bedürfnisse hat, vermittelt die Genossenschaft das Tandem.

Jede geleistete Stunde wird dann der Genossenschaft gemeldet. So entsteht eine Gutschrift auf dem persönlichen Stundenkonto. Wenn aus dem Betreuer dann ein Betreuter wird, kann das Haben des Kontos eins zu eins in entsprechende Betreuungsstunden eingelöst werden. Die Zeitvorsorge basiert also grundsätzlich auf dem gleichen Konzept wie die Altersvorsorge, nur dass statt Geld Zeit angespart wird.

Inzwischen ist aus der Testphase ein Regelangebot der Stadt St.Gallen geworden.
Über 32’000 Stunden sind auf den Konti von 138 Zeitvorsorgenden gebucht.

Zeitgutschrift gegen die Vereinsamung

Modelle wie das von Kiss Schweiz wollen gegen die Vereinsamung alter Menschen wirken. Professionelle Pflege soll nicht ersetzt werden. Gemäss Vereinspräsident Ruedi Winkler wird am häufigsten die Begleitung ausserhalb der eigenen Wohnung angefragt, zum Einkaufen oder zum Arzt. Kleine Reparaturen oder Unterstützung im Haushalt sind ähnlich wichtig. Und nicht zuletzt wird es seitens der Betreuten geschätzt, wenn einfach jemand da ist und ihnen Gesellschaft leistet.

Auf eine erfolgreiche Pilotphase blickt das Projekt Zeitvorsorge St.Gallen zurück. Am Zeitaustauschsystem für Senioren beteiligten sich die lokalen Kirchengemeinden, die Frauenzentrale, das Schweizerische Rote Kreuz, Pro Senectute und die Spitex.

Auch hier sollte ein System aufgebaut werden, um älteren Menschen so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu Hause zu ermöglichen. Und auch hier können gesparte Stunden später für eigene Leistungsbezüge eingesetzt werden.

Inzwischen ist aus der Testphase ein Regelangebot der Stadt St.Gallen geworden. Über 32’000 Stunden sind mittlerweile auf den Konti von 138 Zeitvorsorgenden gebucht. Von diesen sind rund 60% zwischen 60 und 70 Jahren, rund 35% sogar bis 80 Jahre. Ihnen gegenüber stehen 102 Leistungsbeziehenden, davon gut die Hälfte über 80 Jahre. Rund 15% der Leistungen wurden dabei im Bereich Sozialdiakonie zweier reformierter Kirchgemeinden erbracht.

Regula Sandgaard von der Reformierten Kirchgemeinde St. Gallen Centrum betont, nur positive Erfahrungen mit dem Projekt gemacht zu haben. Dreiviertel der Besuchsdienst-Tandems arbeiteten mit dem Instrument der Zeitvorsorge. Besonders frappant sei der Effekt bei den Leistungsbeziehenden. “Es ist nie einfach, Hilfe in Anspruch zu nehmen – und auch nicht leicht, sich in einer fragilen Situation auf fremde Menschen einzulassen”, so Sandgaard. Ihnen komme die Zeitvorsorge entgegen, indem sie dem Zeitvorsorgenden mit ihrer Unterschrift etwas zurückgeben und damit zu einem Vorteil verhelfen könnten.

Auswirkungen auf traditionelle Freiwilligenarbeit

„Die Diakonie verfolgt die Entwicklung solcher Zeitgutschriftensysteme mit grossem Interesse“, so Simon Hofstetter von der Diakonie Schweiz. Noch fehlten jedoch Erfahrungswerte, um einschätzen zu können, wie sich dies auf beide Seiten auswirke.

So könnte die Motivation der Betreuenden leiden, nebenbei auch noch Freiwilligenarbeit zu leisten, weil diese eben nicht entschädigt wird. Gleichzeitig stelle sich die Frage, wie die Betreuten auf Menschen reagieren, die nicht zuerst ihretwegen, sondern für die Zeitentschädigung ihren Dienst tun.

Hofstetter vermutet in jedem Fall grössere Auswirkungen auf die traditionelle kirchliche Freiwilligenarbeit. Kirche und Diakonie täten gut daran, sich an der Weiterentwicklung der Zeitgutschriftensysteme zu beteiligen und Rückwirkungen auf ihre eigene Freiwilligenarbeit genau zu beobachten.

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