Lohnschere bleibt – Zwischenbilanz deckt Schwächen auf

Lohnschere bleibt – Zwischenbilanz deckt Schwächen auf

Trotz gesetzlicher Pflicht zur Lohngleichheitsanalyse bestehen in der Schweiz weiterhin grosse Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern. Eine Zwischenbilanz deckt Mängel auf, während schärfere Gesetze gefordert werden.

Fünf Jahre Gleichstellungsgesetz: Eine nüchterne Bilanz

Fünf Jahre nach der Einführung der Pflicht zur Lohngleichheitsanalyse in der Schweiz ziehen Behörden und Zivilgesellschaft eine gemischte Bilanz. Zwar wurde mit der Revision des Gleichstellungsgesetzes, die am 1. Juli 2020 in Kraft trat, ein wichtiger Schritt in Richtung Lohngleichheit gesetzt. Doch die Wirkung der neuen Vorschriften bleibt bislang begrenzt. So bilanziert die «Koalition gegen Lohndiskriminierung», ein Zusammenschluss von über 50 Organisationen, in einem offenen Brief an den Bundesrat: «Die Lohndiskriminierung ist nach wie vor ein ungelöstes Problem. Gemäss der neusten BfS-Statistik hat die Lohndiskriminierung in der Schweiz sogar weiter zugenommen».

Diese Einschätzung stützt auch die umfassende Zwischenbilanz der Berner Fachhochschule und PrivatePublicConsulting GmbH, die im Auftrag des Bundesamts für Justiz erstellt wurde. Dort heisst es unmissverständlich: «Die gesetzlichen Pflichten gemäss der Revision des Gleichstellungsgesetzes von 2018 werden insgesamt von der Mehrheit der Arbeitgebenden nicht gesetzeskonform wahrgenommen».

Unerklärte Lohnunterschiede: Zahlen und Ursachen

Gemäss den aktuellsten Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) lag der durchschnittliche Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern im Jahr 2022 bei 16,2 Prozent. Besonders brisant: Der Anteil des unerklärten Lohnunterschieds – jener Teil der Differenz, der sich nicht durch objektive Faktoren wie Ausbildung, berufliche Stellung oder Erfahrung begründen lässt – ist gegenüber 2020 leicht gestiegen und beträgt nun 48,2 Prozent. Im Jahr 2020 waren es noch 47,8 Prozent. Diese unerklärte Differenz gilt in der öffentlichen Diskussion und rechtlich oft als Indiz für unmittelbare Lohndiskriminierung.

Für die betroffenen Frauen hat dies handfeste finanzielle Konsequenzen. Die Koalition gegen Lohndiskriminierung rechnet vor, dass Frauen durchschnittlich rund 8’000 Franken pro Jahr allein aufgrund ihres Geschlechts weniger verdienen.

Analysepflicht: Viel Pflicht, wenig Kontrolle

Im Zentrum der Revision des Gleichstellungsgesetzes steht die Einführung der Pflicht für Unternehmen mit mindestens 100 Mitarbeitenden, regelmässig eine betriebsinterne Lohngleichheitsanalyse durchzuführen. Diese Analyse muss nach wissenschaftlich anerkannten Methoden erfolgen. Dafür stellt der Bund das kostenlose Analyse-Tool «Logib» bereit, das von über 85 Prozent der Unternehmen genutzt wird, die eine Analyse durchgeführt haben.

Doch bei der Umsetzung hapert es. Zwar gaben in der grossen Online-Umfrage des Bundesamts für Justiz 77,7 Prozent der teilnehmenden Unternehmen an, eine Lohngleichheitsanalyse durchgeführt zu haben. Doch die Detailauswertung zeigt: Nur 45 Prozent aller antwortenden Arbeitgebenden haben alle drei gesetzlich vorgeschriebenen Schritte – Analyse, Überprüfung und Information der Mitarbeitenden – vollständig erfüllt. Das bedeutet: Mehr als die Hälfte der Unternehmen erfüllt die gesetzlichen Vorgaben nicht vollständig.

Schlupflöcher und Wissenslücken

Ein erhebliches Problem liegt darin, dass die Revision keine regelmässigen Kontrollen vorsieht, sofern ein Unternehmen die erste Analyse mit «Bestanden» absolviert. So heisst es im Gesetz: «Zeigt die erste Analyse, dass die Lohngleichheit eingehalten ist, werden die Arbeitgebenden von der Pflicht zur Durchführung weiterer Analysen befreit». Viele Unternehmen sehen daher keine Notwendigkeit, weitere Analysen durchzuführen. Eine einmalige Analyse reicht jedoch nicht aus, um nachhaltige Lohngleichheit sicherzustellen. Neueinstellungen, Beförderungen oder Unternehmensumstrukturierungen können rasch neue Lohnunterschiede entstehen lassen.

Zwar plant ein gutes Drittel der Unternehmen, die Analyse freiwillig innerhalb der nächsten vier Jahre zu wiederholen, doch knapp ein weiteres Drittel hat dies gar nicht vor. Gerade in kleineren und mittleren Unternehmen sind zudem oft Wissenslücken vorhanden. Mehr als ein Drittel der Arbeitgebenden, die keine Überprüfung der Analyse vorgenommen haben, geben mangelndes Wissen über die Pflicht als Grund an.

Formale statt materielle Kontrolle

Ein weiteres Problem liegt in der Art der gesetzlichen Überprüfung. Das Gesetz verlangt lediglich eine formale Kontrolle der Analyse. Prüferinnen und Prüfer müssen beispielsweise sicherstellen, dass die Analyse im richtigen Zeitraum durchgeführt wurde, dass eine wissenschaftlich anerkannte Methode verwendet wurde und dass alle Lohnbestandteile berücksichtigt wurden. Eine inhaltliche Kontrolle, ob die eingegebenen Daten korrekt oder plausibel sind, ist gesetzlich nicht vorgeschrieben.

Zwar gehen viele Revisionsunternehmen in der Praxis über die Minimalanforderungen hinaus und prüfen auch die inhaltliche Logik der Daten. Doch gesetzlich verpflichtend ist dies nicht. Hier sehen sowohl die Zwischenbilanz als auch zahlreiche Organisationen Handlungsbedarf. «Ohne materielle Prüfung kann eine Analyse formal korrekt, aber inhaltlich wertlos sein», heisst es im Bericht der Berner Fachhochschule.

Transparenz bleibt oft vage

Das Gesetz verpflichtet Unternehmen auch, ihre Mitarbeitenden spätestens ein Jahr nach Abschluss der Analyse schriftlich über die Ergebnisse zu informieren. Börsenkotierte Unternehmen müssen die Ergebnisse zudem im Anhang ihrer Jahresrechnung veröffentlichen, öffentliche Arbeitgeber sogar detailliert ihre Resultate samt Überprüfung.

Doch die Praxis zeigt ein ernüchterndes Bild: Nur 60,4 Prozent der antwortenden Unternehmen gaben an, ihre Mitarbeitenden informiert zu haben. Und selbst wenn informiert wird, bleibt die Mitteilung oft sehr allgemein. Häufig beschränkt sich die Information darauf, dass eine Analyse durchgeführt und kein relevanter Geschlechtereffekt festgestellt wurde. Details wie konkrete Lohnunterschiede oder getroffene Massnahmen werden meist nicht kommuniziert.

Im öffentlichen Sektor, der laut Gesetz eine Vorbildfunktion einnehmen soll, fällt die Bilanz kaum besser aus. Rund die Hälfte der öffentlichen Arbeitgeber veröffentlicht gar keine Resultate. «Das Gleichstellungsgesetz verpflichtet die öffentlich-rechtlichen Arbeitgebenden, die einzelnen Ergebnisse der Lohngleichheitsanalyse und der Überprüfung zu veröffentlichen. Rund die Hälfte von ihnen gab an, dies nicht getan zu haben», kritisiert der Bericht.

Wirtschaftliche Verzerrung durch ungleiche Pflichterfüllung

Ein zentrales Argument der Kritikerinnen und Kritiker ist, dass fehlende Sanktionen nicht nur die Gleichstellung, sondern auch den Wettbewerb verzerren. Unternehmen, die sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben halten, sparen Kosten und Zeit und verschaffen sich so potenziell einen Wettbewerbsvorteil gegenüber jenen, die gesetzeskonform arbeiten. «Arbeitgebende, die sich an das Gleichstellungsgesetz gehalten haben, haben dafür personelle und finanzielle Ressourcen aufgewendet und nötigenfalls die Löhne angepasst. Diejenigen hingegen, die sich über die Pflichten hinweggesetzt haben, hatten keine entsprechenden Aufwendungen und profitierten allenfalls von wirtschaftlichen Vorteilen auf Kosten geringerer Frauenlöhne», heisst es im Bericht des Bundesamts für Justiz.

Koalition fordert umfassende Reform

Vor diesem Hintergrund fordert die Koalition gegen Lohndiskriminierung umfassende Reformen. In ihrem offenen Brief an den Bundesrat verlangt das Bündnis unter anderem, die Pflicht zur Lohngleichheitsanalyse auch auf Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden auszudehnen. Zudem soll die Sunset-Klausel aufgehoben werden, die das Gesetz bis 2032 befristet. «Ein Gesetz, das die Lohngleichheit zum Ziel hat, muss messbare und nachhaltige Effekte erzielen. Die Verpflichtungen dürfen nicht zeitlich begrenzt sein», erklärt Kathrin Bertschy, Nationalrätin der GLP und Co-Präsidentin von Alliance F, in der Mitteilung der Koalition.

Zudem fordert das Bündnis Sanktionen für Unternehmen, die ihre Pflichten nicht einhalten, sowie eine Pflicht zur Umsetzung konkreter Massnahmen, wenn Lohnungleichheit festgestellt wird. Bislang sieht das Gesetz keinerlei Konsequenzen für Verstösse vor. «Solange keine griffigen Massnahmen ergriffen werden, entgehen einer Frau im Durchschnitt ca. 8’000 Franken Lohn pro Jahr. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Massnahmen, die auf nicht sanktionierbaren Vorgaben oder gar auf Freiwilligkeit beruhen, nicht genügen», heisst es im Brief der Koalition.

Blick ins Ausland: Europa geht voran

Die Forderungen in der Schweiz stehen auch im Kontext internationaler Entwicklungen. Die Europäische Union hat im Mai 2023 die sogenannte Lohntransparenz-Richtlinie verabschiedet. Diese verpflichtet Unternehmen unter anderem dazu, über das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu berichten. Beträgt das Gefälle mehr als fünf Prozent und kann es nicht objektiv erklärt werden, müssen Abhilfemassnahmen eingeleitet werden. Verstösse sollen künftig mit empfindlichen Strafen geahndet werden.

Die Schweiz ist zwar nicht Mitglied der EU, doch Schweizer Unternehmen mit Tätigkeiten in der EU werden diese Regeln beachten müssen. Die nationale Debatte über strengere Regelungen dürfte auch deshalb weiter an Fahrt aufnehmen.

Ein Gesetz auf dem Prüfstand

Die Diskussionen um die Lohngleichheit in der Schweiz bleiben also hochaktuell. Noch steht offen, ob und wann der Bundesrat eine umfassende Revision des Gleichstellungsgesetzes einleiten wird. Eine endgültige Wirkungsevaluation des Gesetzes ist für spätestens 2029 vorgesehen. Doch bereits jetzt steht fest, dass das bestehende Regelwerk alleine nicht ausreicht, um die Lohnschere zwischen Frauen und Männern nachhaltig zu schliessen.

Die Koalition gegen Lohndiskriminierung will die Frage jedenfalls nicht auf die lange Bank schieben und kündigt an, bis spätestens Ende 2027 einen eigenen Gesetzesentwurf vorzulegen. Die Botschaft ist klar: «Es ist höchste Zeit, dass der verfassungsrechtliche Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit endlich Realität wird».