Pfarrdiakonat im Thurgau – ein Schritt gegen den Personalmangel?

Pfarrdiakonat im Thurgau – ein Schritt gegen den Personalmangel?

Bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts werden im Kanton Thurgau vier von zehn Pfarrstellen altersbedingt vakant sein. Schon heute springt mancherorts eine pensionierte Pfarrperson oder ein ordinierter Diakon kurzfristig ein, um den Sonntagsgottesdienst zu sichern. Landesweit fehlen nach Schätzungen der Evangelischen Kirche Schweiz in den kommenden 15 Jahren rund 300 Pfarrerinnen und Pfarrer. In dieser Situation lotet der Thurgauer Kirchenrat ein Modell aus, das in der Schweizer Kirchengeschichte zwar nicht völlig neu ist, aber dennoch Neuland bedeutet: das Pfarrdiakonat.

Ordinierte Diakoninnen und Diakone haben in der Thurgauer Kirchenverfassung seit jeher einen vergleichsweise breiten Auftrag. § 38 der Verfassung erlaubt ihnen Fürsorgearbeit, Religionsunterricht, Jugend- und Kindergottesdienste, Jugendarbeit, Seelsorge sowie Gottesdienstvertretungen in der eigenen Gemeinde. Damit übernimmt das Diakonat bereits einen guten Teil der klassischen Gemeindearbeit. Doch Predigtreihen an hohen Festtagen oder die kontinuierliche Gemeindeleitung bleiben bislang dem Pfarramt vorbehalten. Für die Ordination zum Diakon / zur Diakonin ist eine zweijährige berufliche Erfahrung zu mindestens 50% und eine Empfehlung der örtlichen Kirchenvorsteherschaft und des kantonalen Kirchenrats nötig, so der Thurgauer Kirchenrat Paul Wellauer. Die Grundlage zur Empfehlung bildet demnach ein detaillierter Fragebogen, der an das Kompetenzstrukturmodell der Pfarrausbildung im Konkordat angelehnt ist. So könne erfasst werden, dass die Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone mit Doppelqualifikation auch über pastorale Fertigkeiten verfügten, bzw. die persönlichen Voraussetzungen dazu mitbrächten.

Die rechtliche Architektur der Evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau ist presbyterial‑synodal. Gesetzesanpassungen erfordern daher Beschlüsse der 114‑köpfigen Synode und Änderungen der Kirchenverfassung eine Volksabstimmung. Im Juni 2024 nahm die Synode die Motion «Pfarrmangel aktiv angehen» auf die Traktandenliste. Darin wird der Kirchenrat beauftragt, neue Berufsbilder zu prüfen, den Kompetenzkatalog von Diakoninnen und Diakonen zu erweitern und gegebenenfalls Umsetzungsvorlagen auszuarbeiten. Ausdrücklich genannt wird die Option, Diakone nach Zusatzausbildung mit einem Teil‑Pfarrmandat auszustatten.

Was ein Pfarrdiakonat leisten soll

Erste Eckwerte kursieren in Arbeitspapieren des Kirchenrats. Geplant ist eine Zusatzausbildung von drei bis vier Semestern in Homiletik, Liturgik, Kirchenrecht und Gemeindeleitung. Die ordinierten Diakon/-innen müssten über eine mehrjährige Berufserfahrung in einer Kirchgemeinde verfügen und würden während ihrer  Einarbeitungszeit von einer Pfarrperson begleitet, ähnlich dem Vikariat in der regulären Pfarrausbildung.

Absolvierende würden als «Pfarrdiakonin» oder «Pfarrdiakon» ordiniert und könnten regelmässige Predigtdienste, Taufen, Trauungen und Abdankungen ohne Stellvertreterklausel übernehmen. Die kontinuierliche Gesamtleitung der Kirchgemeinde verbliebe bei einer Pfarrperson, sofern vorhanden. Kleine Landgemeinden, die seit Jahren vergeblich nach Pfarrnachwuchs suchen, könnten eine Pfarrdiakonin zur Gemeindeleitung im Teilpensum wählen. Entscheidend für Seelsorge und Verkündigung seien die Kompetenzen, nicht der Bildungsweg, so Paul Wellauer in der Zeitung reformiert.

Der Kanton Glarus führte bereits in den 1970er‑Jahren Pfarrdiakone als Übergangslösung ein. In der Praxis erwies sich die Doppelfunktion dort als tragfähiges Instrument, um Vakanzen zu überbrücken und Talente aus der Gemeindediakonie weiterzuentwickeln. Dieses Beispiel stärkt im Thurgau die Zuversicht, dass ein Pfarrdiakonat die pastorale Fläche sichern kann, ohne den Beruf der Pfarrerin oder des Pfarrers abzuwerten.

Notwendige Gesetzesrevisionen

Ein Pfarrdiakonat lässt sich nicht im Handstreich einführen. § 24 der Kirchenordnung, der Gottesdienst und Predigtauftrag regelt, müsste um eine eigene Amtsbezeichnung ergänzt werden. Auch § 27 (Seelsorge) und § 43 (Aufgabenverteilung Pfarramt / Diakonat) bedürften Präzisierungen. Parallel dazu muss die Besoldungsverordnung eine neue Lohnklasse schaffen. Das Synodalamtsblatt vom 24. Juni 2024 weist bereits darauf hin, dass künftige Kompetenzverschiebungen im Religions‑ und Konfirmationsunterricht lohnrelevant sind – ein Hinweis, dass die Finanzfragen auf der Agenda stehen.

In Synode‑Debatten wird der Ansatz überwiegend positiv aufgenommen, solange «Pfarrdiakon» kein Sparmodell werde und die theologische Qualität garantiert bleibe. Diakoninnen‑Verbände sehen ihr Berufsbild aufgewertet: Wer seit Jahren Seelsorge, Unterricht und Gottesdienstvertretungen leistet, erhält endlich eine Laufbahnperspektive. Skeptikerinnen befürchten hingegen eine Aufweichung der Pfarridentität und fordern klare Kompetenzgrenzen.

Der Kirchenrat plant, bis Herbst 2025 eine Teilrevision der Kirchenordnung in die Synode einzubringen. Bei zügigem Verlauf könnte das Kirchvolk 2026 über die Einführung des Pfarrdiakonats abstimmen, sodass erste Ausbildungsgänge 2027 starten. Ob dieser Fahrplan angesichts komplexer Detailfragen – von Ordinationsritus bis Versicherungsrecht – hält, ist offen.

Kritische Stimmen und offene Fragen

Zuerst die pragmatische Seite: Die Ausbildungskosten wären überschaubar, weil die meisten Diakone die theologischen Grundlagen bereits absolviert haben. Zweitens verspricht das Modell personelle Kontinuität: Wer als Diakonin in einer Gemeinde verwurzelt ist, kennt deren Milieus und kann seelsorgerische Verantwortung schnell übernehmen. Drittens stärkt ein Pfarrdiakonat das reformierte Prinzip der «partnerschaftlichen Gemeindeleitung», indem es Liturgie und Diakonie näher zusammenführt.

Gerade weil der Vorschlag an den Kernberufsbildern rührt, melden sich kritische Stimmen aus Fachgremien der Sozialdiakonie. Das 2010 vom Dachverband herausgegebene Berufsbild Sozialdiakonin / Sozialdiakon betont ausdrücklich ein eigenständiges Aufgabenprofil und möchte die Identität der Berufsausübenden sichern. Würden Diakone fortan Gottesdienste verantworten, riskierte man eine «doppelte Zuständigkeit» – mit der Gefahr, dass diakonische Anliegen im Tagesgeschäft nebensächlich werden oder zu Pfarrarbeit «zweiter Klasse» mutieren.

Die gemeinsame Übereinkunft der Deutschschweizer Kirchen verlangt für Sozialdiakoninnen eine doppelte Qualifikation. Die Erhebung «Diakonie und Diakonat in den Kantonalkirchen» der Konferenz Diakonie Schweiz zeigt jedoch, wie heterogen die Kantone mit diesen Standards umgehen. In vielen Kirchen ist die Sozialdiakonie faktisch das «zweite Amt» gleich hinter der Pfarrperson; in Thurgau sogar ordiniert. Wer das Pfarrdiakonat einführt, muss also klären, ob weiterhin ein eigenständiger diakonischer Berufsweg existiert oder ob die Diakonie in Richtung «Pfarrdienst light» nivelliert wird.

„Aus meiner Sicht müsste auch das Berufsbild des «Master-Pastors» mit universitärer Ausbildung diskutiert und geschärft werden: Bisher sind wir im Pfarramt oft Allrounder in vielen Bereichen und die spezifisch theologische Grundlagenarbeit, für die wir eigentlich ausgebildet sind, kommt zu kurz“, so Paul Wellauer gegenüber diakonie.ch. „Gerade Fragen der Gemeindeleitung, der zukünftigen Entwicklung der Kirche, der theologischen Bildung von Kindheit bis Alter sollten uns Pfarrpersonen stärker beschäftigen. Der Einsatz von Pfarrdiakon/-innen könnte uns hier Freiraum ermöglichen, unser spezifisches Berufsbild als Pfarrpersonen mit «Vollausbildung» neu zu definieren.“ Rund doppelt so viele Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone könnten pro Jahr ausgebildet werden, als Personen den Weg ins Pfarramt über das Theologiestudium wählten, sei die Beobachtung aus dem Thurgau. Das Modell, die berufsbegleitenden Ausbildungsstellen zur Hälfte durch die Kantonalkirche zu finanzieren, trage Früchte.

Profil der Sozialdiakonie

Fachverbände verweisen auf die Bedeutung eines klaren diakonischen Profils für die Glaubwürdigkeit kirchlichen Handelns. Gemeinwesenarbeit, die Arbeit für Menschen in Not, Freiwilligenmanagement und sozialpädagogische Projekte unterscheiden die Sozialdiakonie von der Verkündigung im engeren Sinn. Wird dieses Profil verwischt, droht der Kirche ein Kompetenzverlust genau dort, wo sie in der Öffentlichkeit noch sichtbar wirkt: an sozialen Brennpunkten, in Projekten für Jugendliche, Seniorinnen und Migranten.

Einige Kirchgemeinden könnten die Flexibilisierung begrüssen: Wer seit Jahren mit einer Diakonin zusammenarbeitet, vertraut deren theologischer Kompetenz. Andere könnten neue Hierarchieprobleme befürchten: Erhält die Diakonin mit Pfarrfunktion mehr Gehalt? Wie wird die Leitung im Team neu austariert? Und welches Amt geniesst künftig «geistliche Autorität», wenn Diakone wie Pfarrerinnen predigen?

Genauso könnte sich innerhalb der Sozialdiakonatskapitel die Sorge breitmachen, das Pfarrdiakonat könne eine «Rückkehr zum Pfarrzentrierten Modell» markieren. Die oben zitierte Studie ordnet die Thurgauer Ordnung bislang dem Typus «ordinierte Dienste» zu, in dem Pfarr- und Diakonat gleichwertig, aber komplementär ausgestaltet sind. Eine partielle Übernahme pfarramtlicher Aufgaben könnte diese Balance verschieben. Vertreterinnen der Diakonie argumentieren, die Stärke der reformierten Kirche sei gerade die Arbeitsteilung zwischen Wortverkündigung und tätiger Liebe. Ein klares Berufsprofil schützt damit die Professionalität, erleichtere Aus- und Weiterbildung und ermöglicht eine differenzierte Besoldung. Ohne diese Unterscheidung könnte die Kirche ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal in der Schweizer Soziallandschaft verlieren. Zudem, wird die Zürcher Kirchenratspräsidentin Esther Straub in der Zeitung refomiert zitiert, verschiebe die Durchlässigkeit zwischen Sozialdiakonie und Pfarramt nur das Problem. Zudem werde die Diakonie entwertet. Sozialdiakoninnen seien keine Schmalspurpfarrerinnen, sondern gut ausgebildete Berufsleute, so Straub.

Zwischen Innovation und Identität

Die Thurgauer Initiative zeigt, wie kreativ Landeskirchen heute auf Personalengpässe reagieren. Ein Pfarrdiakonat könnte Vakanzen rasch überbrücken, Gemeindekontinuität wahren und das Priestertum aller Gläubigen neu buchstabieren. Zugleich mahnen Fachkreise, den Wert einer eigenständigen Sozialdiakonie nicht preiszugeben. Ob das neue Amt eine echte Synergie schafft oder langfristig das diakonische Profil aufweicht, entscheidet sich an klaren Ausbildungswegen, transparenten Besoldungsordnungen und einer Definition, die Dienst am Menschen und Dienst am Wort weder vermischt noch gegeneinander ausspielt. Die kommenden Synodenjahre werden zeigen, ob der Thurgauer Weg zum Modell für andere Kantone taugt – oder als warnendes Beispiel einer gut gemeinten, aber letztlich ungedeckten Rollenerweiterung in die Kirchengeschichte eingeht.

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