Pflegende Angehörige als neue Herausforderung für die kirchliche Diakonie
Die demografischen Veränderungen unserer hochindustrialisierten Gesellschaften bringen es mit sich, dass die Zahl der hochaltrigen Menschen sowie auch die Zahl der altersbedingt pflegebedürftigen Menschen stark ansteigen. Dem oftmals von betagten Menschen geäusserten Wunsch nach Verbleib in den eigenen vier Wänden kann zum Einen nachgekommen werden, wenn ambulante Pflege- und Hilfeleistungen organisiert werden. Zum Anderen erweist sich jedoch insbesondere die Verfügbarkeit über ein stabiles, privates Hilfenetzwerk von Angehörigen als entscheidende Voraussetzung für die Versorgung und Betreuung zu Hause.
In der Schweiz betätigen sich rund eine Viertelmillion Menschen als Hauptpflegepersonen für ihre betagten Angehörigen. Vorwiegend sind dies Mitglieder aus der Kernfamilie, insbesondere (Ehe-)Partnerinnen und -Partner sowie Kinder der Betroffenen. In der Schweiz liegt dabei das Verhältnis der pflegenden Frauen zu den pflegenden Männern ungefähr bei zwei Dritteln zu einem Dritte. Diese zeitlich oftmals intensive Tätigkeit leisten die Angehörigen nicht einfach so nebenher, sondern sie betreffen häufig ihren Alltag, ihre Freizeit, ihr Familienleben und in manchen Fällen auch ihren Berufsalltag; die Angehörigen richten diese Elemente nach den Bedürfnissen der pflegebedürftigen Person aus.
Notwendig wäre also, die pflegenden Angehörigen abseits einer reinen Defizit-Perspektive nicht nur ernst zu nehmen, sondern gleichzeitig die Mängel an Handlungsmöglichkeiten zu beheben, die ihnen durch das wohlfartspluralistische System der Schweiz quasi aufgezwungen werden. So haben die direkten finanziellen Leistungen an pflegende Angehörige nicht kompensierte Lohnausfälle und sozialversicherungsrechtliche Deckungslücken zur Folge, zudem stehen solche Leistungen gar nicht allen pflegenden Angehörigen zur Verfügung. Staatliche Instanzen nehmen zunehmend Einfluss in der Frage, welche Angebote wie finanziert werden – oder nicht. Die Betagten und ihre Angehörigen werden vermehrt an den aufkommenden Pflegekosten beteiligt. Das Problem liegt jedoch noch eine Stufe höher. Den Leistungen des Wohlfahrtspluralismus fehlt es an einer übergreifenden und zusammenhängenden Systematik. Staatliche Finanzierungsleistungen scheinen historisch gewachsen, nicht aber aus der Perspektive von Angehörigen konstruiert. Weiter fehlt die Systematik auch in vertikaler Hinsicht, also in Bezug auf die drei föderalen Ebenen.
Das diakonische Konzept der Teilhabeförderung vermag dies möglicherweise zu leisten. Pflegende Angehörige haben einen elementaren Anspruch darauf, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Denn während sie pflegebedürftigen Menschen zur grösstmöglichen Teilhabe an einem sozialen Leben verhelfen, wird ihr eigenes Vermögen dazu entsprechend eingeschränkt.
Kirchgemeinden kommt in dem Zusammenhang zum Beispiel mit Besuchs- und Entlastungsdiensten eine wichtige Aufgabe zu. Die reformierten Kirchen unterhalten annähernd flächendeckene Angebote für ältere Menschen. Über ihre Präsenz vor Ort und ihre Fähigkeit zur Einbindung der Mitglieder verfügen sie über einen priviligierten Zugang zu betroffenen Personen. Speziell auf pflegende Angehörige ausgerichtete Angebote sind derzeit noch als pionierhaft einzustufen. Sie untermauern die Rolle der Kirchen als engagierter Akteur und starker Partner im Feld des sozialen Handelns. Ein wichtiger Schritt wäre nun, die Besuchs- und Entlastungsdienste im Sinne ihrer Anspruchsgruppenorientierung neu zu fokussieren und die pflegenden Angehörigen in den Fokus zu rücken.