Pflegende Angehörige als neue Herausforderung für die kirchliche Diakonie

Pflegende Angehörige als neue Herausforderung für die kirchliche Diakonie

Pflegende Angehörige von betagten Menschen leisten für die Gesellschaft unersetzbare Dienste, die jedoch noch viel zu wenig wahrgenommen und wertgeschätzt werden.
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Pflegende Angehörige als neue Herausforderung für die kirchliche Diakonie

Pflegende Angehörige leisten für die Gesellschaft unersetzbare Dienste – und doch werden sie kaum wahrgenommen: Sie kommen in öffentlichen Debatten weder zu Wort, noch sind sie Gegenstand sozialpolitischer Programme.

Die demografischen Veränderungen unserer hochindustrialisierten Gesellschaften bringen es mit sich, dass die Zahl der hochaltrigen Menschen sowie auch die Zahl der altersbedingt pflegebedürftigen Menschen stark ansteigen. Dem oftmals von betagten Menschen geäusserten Wunsch nach Verbleib in den eigenen vier Wänden kann zum Einen nachgekommen werden, wenn ambulante Pflege- und Hilfeleistungen organisiert werden. Zum Anderen erweist sich jedoch insbesondere die Verfügbarkeit über ein stabiles, privates Hilfenetzwerk von Angehörigen als entscheidende Voraussetzung für die Versorgung und Betreuung zu Hause.

In der Schweiz betätigen sich rund eine Viertelmillion Menschen als Hauptpflegepersonen für ihre betagten Angehörigen. Vorwiegend sind dies Mitglieder aus der Kernfamilie, insbesondere (Ehe-)Partnerinnen und -Partner sowie Kinder der Betroffenen. In der Schweiz liegt dabei das Verhältnis der pflegenden Frauen zu den pflegenden Männern ungefähr bei zwei Dritteln zu einem Dritte. Diese zeitlich oftmals intensive Tätigkeit leisten die Angehörigen nicht einfach so nebenher, sondern sie betreffen häufig ihren Alltag, ihre Freizeit, ihr Familienleben und in manchen Fällen auch ihren Berufsalltag; die Angehörigen richten diese Elemente nach den Bedürfnissen der pflegebedürftigen Person aus.

Die pflegenden Familienmitglieder leisten durchschnittlich sehr grosse Zeiteinsätze – pflegende Partnerinnen und Partner durchschnittlich 60 Stunden pro Woche, pflegende Kinder deren 30. Dass dieser grösste Pflegedienst der Nation jedoch eigentlich bloss halb so intensiv mit der Pflege beschäftigt sein möchte, stellt eine dringende Problemanzeige dar. Zudem zeigt sich, dass die Tragfähigkeit der weiteren familiären und sozialen Netze, also der Bezugspersonen ausserhalb der Kernfamilie, nicht besonders gross ist. Den pflegenden Familienmitgliedern gelingt es kaum, entlastende Ressourcen aufzubieten.
Wenn auch viele Angehörige aus der Tätigkeit der Pflege und Betreuung eines betagten Familienmitglieds Ressourcen schöpfen, d.h. Motivation und Kraft erfahren oder einen neuen Lebenssinn entdecken, so ist die Tätigkeit der Angehörigenpflege oftmals mit vielfältigen, sich bedingenden oder überlagernden Ausgrenzungsdimensionen verbunden, die die Angehörigenpflege zuweilen zu einer belastenden Realität werden lässt und die ihre Teilhabemöglichkeiten an Lebensvollzügen in der Gesellschaft stark beeinträchtigen.
Witikon; Wikimedia/Roland zh
Pflegende Angehörige leisten für die Gesellschaft unersetzbare Dienste – und doch werden sie erst in geringem Masse wahrgenommen: Sie kommen in öffentlichen Debatten kaum zu Wort, nur selten sind sie Gegenstand sozialpolitischer Programme. Auch in der kirchlichen sozialen Arbeit, der Diakonie, liegen bislang noch keine Ansätze vor, der Angehörigenarbeit grössere Beachtung zu schenken.

Notwendig wäre also, die pflegenden Angehörigen abseits einer reinen Defizit-Perspektive nicht nur ernst zu nehmen, sondern gleichzeitig die Mängel an Handlungsmöglichkeiten zu beheben, die ihnen durch das wohlfartspluralistische System der Schweiz quasi aufgezwungen werden. So haben die direkten finanziellen Leistungen an pflegende Angehörige nicht kompensierte Lohnausfälle und sozialversicherungsrechtliche Deckungslücken zur Folge, zudem stehen solche Leistungen gar nicht allen pflegenden Angehörigen zur Verfügung. Staatliche Instanzen nehmen zunehmend Einfluss in der Frage, welche Angebote wie finanziert werden – oder nicht. Die Betagten und ihre Angehörigen werden vermehrt an den aufkommenden Pflegekosten beteiligt. Das Problem liegt jedoch noch eine Stufe höher. Den Leistungen des Wohlfahrtspluralismus fehlt es an einer übergreifenden und zusammenhängenden Systematik. Staatliche Finanzierungsleistungen scheinen historisch gewachsen, nicht aber aus der Perspektive von Angehörigen konstruiert. Weiter fehlt die Systematik auch in vertikaler Hinsicht, also in Bezug auf die drei föderalen Ebenen.

Das diakonische Konzept der Teilhabeförderung vermag dies möglicherweise zu leisten. Pflegende Angehörige haben einen elementaren Anspruch darauf, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Denn während sie pflegebedürftigen Menschen zur grösstmöglichen Teilhabe an einem sozialen Leben verhelfen, wird ihr eigenes Vermögen dazu entsprechend eingeschränkt.

Kirchgemeinden kommt in dem Zusammenhang zum Beispiel mit Besuchs- und Entlastungsdiensten eine wichtige Aufgabe zu. Die reformierten Kirchen unterhalten annähernd flächendeckene Angebote für ältere Menschen. Über ihre Präsenz vor Ort und ihre Fähigkeit zur Einbindung der Mitglieder verfügen sie über einen priviligierten Zugang zu betroffenen Personen. Speziell auf pflegende Angehörige ausgerichtete Angebote sind derzeit noch als pionierhaft einzustufen. Sie untermauern die Rolle der Kirchen als engagierter Akteur und starker Partner im Feld des sozialen Handelns. Ein wichtiger Schritt wäre nun, die Besuchs- und Entlastungsdienste im Sinne ihrer Anspruchsgruppenorientierung neu zu fokussieren und die pflegenden Angehörigen in den Fokus zu rücken.

Der Horizont muss jedoch auf die Gesellschaft als Solidaritätsgemeinschaft ausgeweitet werden. Finanzielle Transferleistungen und andere Formen von Zeitleistungen für Angehörige sind ernst zu nehmende Massnahmen. Die Politik ist sich der Problematik bewusst, entsprechende Diskussionen befinden sich aber erst im Stadium der Modelldebatten und sind je ambivalent zu beurteilen. So liegt der Vorteil von Pflegeversicherungsmodellen in ihrer Bedarfsorientierung (statt einer Erwerbsarbeitsorientierung), ihre Schwäche jedoch darin, dass sie aus Sicht der Angehörigen kaum eine Wahlmöglichkeit erlauben, ob die Angehörigen die Pflegetätigkeit übernehmen wollen oder nicht. Pflegezeitgesetze wiederum generieren einerseits ein hohes Mass öffentlicher Aufmerksamkeit, weil die Leistungen direkt an die pflegenden Angehörigen gerichtet sind. Allerdings richten sich diese Modelle vorwiegend an Erwerbstätige.
Angesichts des Umstands, dass auf der nahräumlichen Ebene des Gemeinwesens durchaus eine Vielfalt an Angeboten für pflegende Angehörige besteht, jedoch auf gesamtgesellschaftlicher, politischer Ebene kaum Ansätze zu einer wirkungsvollen Unterstützung pflegender Angehöriger vorliegen, ist aus kirchlich-diakonischer Sicht die Notwendigkeit gegeben, ihr anwaltschaftliches Mandat vertieft wahrzunehmen und sich durch ihr öffentliches Handeln und die Wahrnehmung politischer Verantwortung für die Anliegen pflegender Angehöriger einzusetzen. Ihrem Auftrag entsprechend sollen die kirchlich-diakonischen Akteure daher stellvertretend für die pflegenden Angehörigen die Stimme erheben im politischen Diskurs und für sie grundlegende Teilhabemöglichkeiten einfordern.
Pfr. Dr. Simon Hofstetter

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Dozentur für Diakoniewissenschaft, Diakonie Schweiz

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