Gespräche, Gespräche, Gespräche
Flüchtlinge unterstützen möchten viele Freiwillige und Angestellte von Kirchgemeinden. Doch wie ist den Zugewanderten geholfen? Und wie gelingt ein Projekt? Ein Paradebeispiel aus dem Kanton Neuenburg zeigt: Ein Erfolgsfaktor ist Anpassungsfähigkeit.
Manchmal passen Realität und Vorstellung nicht zusammen. Als sich 2012 eine Gruppe aus zehn freiwilligen Bürgerinnen und Mitgliedern der Kirchgemeinde Le Joran NE entschied, die Asylbewerbenden des damals neuen Asylszentrums Boudry NE willkommen zu heissen und eine Brücke zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen zu bauen, dachten sie, sie selbst seien im Zentrum willkommen. Doch die damalige Leiterin reagierte ablehend auf die Initiative. Mit Grund: Zuvor hatten Freikirchen im Zentrum missioniert – was den Grundsätzen der staatlichen Institution widersprach. Die Asylsuchenden sollten nicht den Eindruck bekommen, dass sie Christen werden müssen, um aufgenommen zu werden in der Schweiz, da in der Verfassung Glaubensfreiheit festgehalten ist.
Material

Die Gruppe RequérENSEMBLE umfasst 40 Freiwillige und eine teilzeitlich angestellte Koordinatorin. Bild: canal alpha.
«Wir mussten das Vertrauen, das wir heute zueinander haben, sorgsam aufbauen», erinnert sich Jacqueline Lavoyer-Bünzli, die damals in der Kirchgemeinde Le Joran Sozialdiakonin war. Sogar zum zuständigen Regierungsrat des Kantons Neuenburg nahm sie, die einzige Entlöhnte unter den Engagierten, Kontakt auf. Gemeinsam mit den Freiwilligen wollte sie die Feindseligkeiten und Ängste in der Bevölkerung gegenüber den Asylbewerbenden abbauen. Im gegenseitigen Kontakt, so die Idee, sollte das menschlich Verbindende in der Vordergrund rücken. Was Schritt für Schritt gelang: Es kam zur Annäherung über gelegentliche Kaffee-Treffs und gemeinsame Feiern an Feiertagen.
RequérENSEMBLE: Bedürfnisse analysieren
Als 2015 aus dem kantonalen Zentrum ein Bundesasylzentrum wurde und die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner des Zentrums stieg, legte die Gruppe einen Zacken zu. Sie verabschiedete eine Charta namens «RequérENSEMBLE» und beschloss, regelmässige Angebote zu organisieren. Da der sprachliche Austausch eine Schwierigkeit darstellte, dachten die Freiwilligen, gemeinsames Basteln wäre eine passende Form der Kommunikation und eine willkommene Abwechslung zum monotonen Alltag der Asylsuchenden. Doch auch diese Vorstellung entsprach nicht der Realität. Basteln mochten die Menschen, die ein lange Flucht hinter sich und eine unsichere Zukunft vor sich hatten, nicht. «Sie wollten vor allem möglichst schnell Kontakt aufnehmen mit ihren Angehörigen im In- und Ausland», erinnert sich Jacqueline Lavoyer-Bünzli.
Also passte die Gruppe, die inzwischen 40 Freiwillige und eine teilzeitlich angestellte Koordinatorin umfasste, ihr Angebot an. In einem Chalet, das einer Suchtstation gehört und das RequérENSEMBLE für zwei Nachmittage kostenlos zur Vergügung gestellt bekommt, installierte sie fünf alte, von Arbeitslosen aufgerüstete Computer und zwei Tablets, damit die Asylsuchenen skypen konnten. Auch auf andere Spenden konnte sie zählen. So stellte zum Beispiel die regionale Raiffeisen-Bank Kugelschreiber und Papier zur Verfügung. Die Stiftung Fondia finanzierte zudem das Teilzeitpensum der Koordiantorin.
Das Skypeangebot kam gut an. Doch dann beobachteten die Freiwilligen, dass viele Zugewanderte ihre Kinder sich selbst überliessen, weil sie es gewohnt waren, dass sich alle Anwesenden der Kinder annahmen. Flugs nahmen einige Freiwillige sich der Situation an und begannen, für die Kleinen einfache Spiele zu organisieren und mit ihnen zu basteln. «Die Freiwilligen, die von der Kirchgemeinde begleitet, aber nicht bevormundet werden, sind sehr kreativ. Jemand legte zum Beispiel einen Ordner mit Wörtern in den verschiedensten Sprachen an, damit die Verständigung einfacher wurde», erzählt Jacqueline Lavoyer-Bünzli.

«Wir mussten das Vertrauen, das wir heute zueinander haben, sorgsam aufbauen», erinnert sich Jacqueline Lavoyer-Bünzli, die damals in der Kirchgemeinde Le Joran Sozialdiakonin war.
Bild: canal alpha.
Lernen aus den Erfahrungen im Joran
Inzwischen hat sich die Realität wieder gewandelt. Das Bundesasylzentrum stellt selbst Kommunikationsmöglichkeiten ins Ausland zu Verfügung. Also hat die Gruppe RequérENSEMBLE das Projekt erneut angepasst. Nun organisiert sie regelmässige Kaffee- und Feiertagstreffs. An der letzten Weihnachtsfeier nahmen erstmals mehr Einheimische teil als Asylbewerbende. Der Brückenschlag ist also gelungen.
Worauf sollen Kirchgemeinden, die auch aktiv werden möchten, achten? Jacqueline Lavoyer-Bünzli sagt, die Zusammenarbeit unter den Freiwilligen und deren Unterstützung durch die Angestellten der Gemeinde sei entscheidend. In der Nneuenburger Kirche werden alle Freiwilligen im Asylbereich erstens in einem Kurs auf die Aufgabe vorbereitet. Zweitens tauscht die Gruppe sich vorort einmal pro Monat untereinander aus, um über Erfahrungen und Schwierigkeiten zu sprechen und nach Lösungen zu suchen. Denn die Situation im Chalet ist nicht immer einfach. Bisweilen kommen stark Alkoholisierte zu den Treffs oder es kommt zu Aggression. «Gemeinsam schaffen es die Engagierten immer wieder, auch in heiklen Situationen Lösungen zu finden, die für Asylsuchende und Freiwillige passen,» sagt Jacqueline Lavoyer-Bünzli, die inzwischen bei der Neuenburger Kantonalkirche für Gemeindeentwicklung zuständig ist. Was ist ihr vorläufiges Fazit? «Vertrauen aufbauen über Gespräche ist das A und O fürs Gelingen.»
Aktion Flucht.Punkt – Wenn Flüchtlinge ins Pfarrhaus ziehen
Wo der Staat überfordert ist, übernimmt die Diakonie eigentlich staatliche Aufgaben, zum Beispiel mit der Aktion Flucht.Punkt der Reformierten in Zürich. Das stösst auf Interesse – bei den Freiwilligen und bei den Flüchtlingen.