Sozialalmanach bemängelt Grundproblem ungerechter Startchancen

Sozialalmanach bemängelt Grundproblem ungerechter Startchancen

Rund 1,3 Millionen Menschen sind laut aktuellem Caritas-Sozialalmanach in der Schweiz armutsbetroffen oder armutsgefährdet. Im Vergleich zu anderen Ländern setze die Schweiz dabei wenig in familienergänzende Betreuung.

Nur Gesellschaften, in denen allen Mittel, Teilhabe und Chancen offenstehen, sind auf lange Sicht stabil und fähig, die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft, insbesondere die Klimakrise, gewaltfrei anzugehen, so Caritas Schweiz im Factsheet zum jüngst erschienenen Sozialalmanach zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Schweiz. Armut und soziale Ungleichheit seien miteinander verschränkt.

Im Weltmassstab ist die Ungleichheit zwischen und innerhalb der Länder extrem, so Caritas weiter. Für die Ungleichheit in der Schweiz gelte es sich zu vergegenwärtigen, dass ein grosser Teil der Vermögen vererbt und damit leistungslos erworben würden. Zugleich seien soziale Herkunft und Benachteiligung aufgrund der familiären Verhältnisse eines der grössten Armutsrisiken: Ein grosser Anteil der Sozialhilfe gehe an Minderjährige in armen Familien.

Weder sei Existenzunsicherheit selbstverschuldet, noch entspringe Reichtum nur dem eigenen Leistungswillen oder Talent. Vielmehr sei das Verhältnis von Arm und Reich Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Entscheidend seien für beide Dimensionen die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Produktivitätsgewinne verteilt würden.

In den letzten vierzig Jahren, so Caritas, dominierten hohe Einkommen, Privatisierung von Gewinnen, Steuersenkungen aufs Erbe und bei Unternehmen, Angriffe auf den Sozialstaat und Druck auf Armutsbetroffene. Dabei zeigten alle Analysen, dass ein progressives Steuersystem der beste Hebel sei, um die Ungleichheit abzubauen und den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem massiv auszuweiten – und ein ausfinanzierter Sozialstaat die beste Garantie, Teilhabe zu erwirken und damit für grössere Chancengleichheit zu sorgen.

Arme Haushalte und Familien betroffen

Rund 1,3 Millionen Menschen sind laut Caritas-Analyse in der Schweiz armutsbetroffen oder armutsgefährdet. Preissteigerungen spürten Haushalte mit tiefen Einkommen viel stärker. Viele hätten keine Optionen und müssten praktisch ihr ganzes Einkommen für gebundene Konsumausgaben wie Wohnung, Energie, Lebensmittel und Verkehr ausgeben. Bei diesen Ausgaben könnten sie nicht sparen.

Familien seien dabei noch stärker betroffen als Einzelpersonen. So gebe eine vierköpfige Familie mit tiefem Einkommen prozentual sehr viel mehr Geld für die Wohnungsmiete und Nahrungsmittel aus als eine alleinstehende Person mit mittlerem Einkommen. Die Handlungsfähigkeit von Armutsbetroffenen sei damit stark eingeschränkt. Ihnen werde praktisch verunmöglicht, Eigenverantwortung zu übernehmen und ihre Situation zu verändern.

Die individuellen Prämienverbilligungen der Krankenkassen, so Caritas weiter, sorgten nicht einmal annähernd für einen Ausgleich zu den seit Jahrzehnten steigenden Gesundheitskosten. Erst kürzlich haben Bundesrat und Ständerat weitere Massnahmen zur Unterstützung der Haushalte sowie eine Aufstockung der Prämienverbilligungen abgelehnt.

Ungleichheit im Asyl- und Migrationsbereich

Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Personen mit Schutzstatus S erhalten viel weniger Sozialhilfe als sogenannt Einheimische und anerkannte Flüchtlinge. Die Asylsozialhilfe liege unter dem regulären Grundbedarf gemäss Sozialhilfekonferenz, so das Factsheet weiter. Die Situation der Geflüchteten aus der Ukraine habe das Ausmass dieser Unterschiede ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Das Leben in der Schweiz sei für diese Personen aber genau gleich teuer wie für alle anderen.

Wer in der Schweiz in eine finanzielle Notlage gerate, habe Anrecht auf Unterstützung für ein menschenwürdiges Dasein. Dieses Anrecht auf Hilfe werde aber seit 2019 durch das Ausländer- und Integrationsgesetz stark eingeschränkt, so Caritas weiter: Heute müssten armutsbetroffene Personen ohne Schweizer Pass um ihre Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz fürchten, wenn sie Sozialhilfe beziehen – selbst wenn sie schon länger als 10 Jahre in der Schweiz lebten, viele Jahre hier gearbeitet hätten oder sogar hier geboren seien. Diese Regelung veranlasse ausländische Personen zum Nicht-Bezug von Sozialhilfe.

Die Situation belaste die Betroffenen psychisch und oft auch gesundheitlich enorm und erschwere ihre soziale und berufliche Teilhabe. Den nicht mutwilligen Bezug von Sozialhilfe mit dem Widerruf der Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung zu sanktionieren, sei grundsätzlich falsch und bei lange in der Schweiz lebenden Menschen absolut unverhältnismässig, so Caritas.

Mehr frühkindliche Förderung

Wer etwas gegen die ungleich verteilten Bildungschancen unternehmen wolle, müsse dies in den ersten sechs Lebensjahren tun, stellt das Factsheet fest. Auch eine möglichst chancengerechte Volksschule könne jedoch keine Wunder vollbringen, wenn sich die Leistungen schon in der Einschulungsphase je nach sozioökonomischer Herkunft stark unterschieden.

Die Schweiz setze im Vergleich zu anderen Ländern nur wenig in die familienergänzende Betreuung, Bildung und Erziehung kleiner Kinder ein. In einem Forschungsbericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen Unicef lande die Schweiz im internationalen Vergleich von 41 Ländern auf Platz 38.

Das Grundproblem ungerechter Startchancen, so Caritas weiter, müsse mit der Förderung frühkindlicher Bildung angegangen werden. So sollte für benachteiligte Familien mit wenig Ressourcen die frühkindliche Bildung mit Hausbesuchsprogrammen ab der Geburt organisiert werden.

Insgesamt, so resümiert Caritas, brauche es einen grundlegenden Systemwechsel. Eine existenzsichernde Bedarfsleistung sowie Begleitung und Beratung aus einer Hand für alle Menschen, deren Einkommen nicht für den Lebensunterhalt reiche.