Thema

Sozialdiakonie in der Schweiz

Das Berufsbild der Sozialdiakonie in der Schweiz hat sich deutlich entwickelt, die Anstellungsbedingungen kommen dem aber nicht nach. Zudem besteht Nachwuchsmangel. Insgesamt ist die Situation des Diakonats sehr divergent, lautet das Ergebnis einer aktuellen Umfrage unter 17 Deutschschweizer Kantonalkirchen.

Seit den 1990er Jahren gibt es die «Übereinkunft sozial-diakonische Dienste», die einen gemeinsamen Ausbildungsstandard für die Sozialdiakonie in der Deutschschweiz definiert. So setzt sie eine doppelte Qualifikation aus sozialfachlicher Ausbildung und kirchlich-theologischem Lehrgang voraus. Ausserdem enthält sie einen Überprüfungsmechanismus für eine ausserordentliche Zulassung zum Diakonat.

Mit einer Umfrage unter den Kirchen sollte nun der Stand der Dinge der Sozialdiakonie in der Schweiz abgebildet werden. Bereits 2013 wurde erstmals eine solche Erhebung durchgeführt. Die aktuelle vom vergangenen Jahr aktualisiert und verfeinert die Datenlage. Alle 17 involvierten Kirchen beteiligten sich.

Die Situation des Diakonats ist sehr divergent. Die Kantonalkirchen haben die Sachfragen je eigenständig geregelt. Jede Kantonalkirche ist ein Sonderfall; es bestehen vielfältige unterschiedliche Ausgestaltungen der Sozialdiakonie in den Kantonalkirchen.

Kantonalkirchliche Ämterordnungen

Die Analyse der Rechtsordnungen lässt grob auf drei Typen schliessen. Im Modell «Ordinierte Dienste» ist die Sozialdiakonie weitgehend dem Pfarramt gleichgestellt (AG, FR, GR, SG, SH, TG). Im abgestuften Modell werden der Sozialdiakonie spezifische Rechte und Pflichten im Rahmen ihres kirchlichen Auftrags zugeordnet (BEJUSO, BL, LU, SO, ZH). Und im pfarrzentrierten Diasporamodell fungiert das Pfarramt als einziger explizit ausformulierter Dienst. Die Sozialdiakonie ist wie alle anderen Anstellungen kaum reglementiert (AI/AR, GL, NW, SZ, ZG).

Die Sozialdiakonie in der Schweiz ist also zwischen Gemeindeleitung und Wohnsitzpflicht bis zur Tatsache, auf sich allein gestellt zu sein, sehr unterschiedlich verortet. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein entscheidender Institutionalisierungsschub festzumachen, die insgesamt eine Stärkung des sozialdiakonischen Wirkens bedeutet.

Berufsstandards

Die Kantonalkirchen anerkennen grossmehrheitlich die Mindestanforderungen für die Sozialdiakonie. Gleichzeitig unterhalten verschiedene Kantonalkirchen eigene, abweichende Standards. So fordern einzelne Kirchen einen Abschluss, der die Mindeststandards übersteigt (SG, TG), während anderswo auch weniger kirchlich-theologische Ausbildungsstunden als in den Mindeststandards festgelegt genügen (BEJUSO). Teilweise werden auch alternative Ausbildungen anerkannt (BL, BS). Schliesslich sind in einigen kleinen Kantonalkirchen die Mindestanforderungen nicht bekannt oder werden nicht praktiziert (AI/AR, GL, NW, SZ). Auch die ausserordentliche Zulassung ist in der Übereinkunft sozial-diakonische Dienste definiert, jedoch werden in einigen Kantonen Äquivalenzprüfungen durchgeführt (SG, SH).

Arbeitsfelder

Ob Lebenshilfe, Koordination der Freiwilligenarbeit, Bildung und Schulung oder Gemeindeaufbau: alle sozialdiakonischen Tätigkeiten werden laut Umfrage in hohem Masse ausgeführt. Lediglich in drei Bereichen ist ein mittelgrosses oder geringes Wirken festzustellen: rechtliche und finanzielle Fachberatung – hier wird auf zivilgesellschaftliche Organisationen verwiesen; OeME – hier wird bemerkt, dass diese Tätigkeiten nicht nur von der Sozialdiakonie geleistet werden und insgesamt zurückgehen; und die politische Diakonie – diese Tätigkeiten sind den kirchenleitenden Gremien vorbehalten.

In nicht unerheblichem Masse ist die Sozialdiakonie in der Schweiz in die liturgische Arbeit der Kirchgemeinden eingebunden. In mittlerem Ausmass findet eine Beteiligung am Gottesdienst statt; in geringerem Ausmass ist die Sozialdiakonie auch an Kasualien beteiligt. In der Regel ist die liturgische Mitwirkung an Voraussetzungen wie eine besondere Ausbildung oder eine klare Stellvertretung gebunden.

In zahlreichen Kantonalkirchen ist zudem die Jugendarbeit wichtig, gleichzeitig ist sie aber in den Ordnungen nur unklar verortet. Zuweilen ist sie in der Sozialdiakonie, zuweilen in der Katechetik oder Religionspädagogik angesiedelt, teils sogar ausserhalb bestehender kirchlicher Ämter.

Sozialdiakonie in der Schweiz: Zahlen

In früheren Erhebungen im Bereich der Sozialdiakonie wurde (von einzelnen Abweichungen abgesehen) im Wesentlichen die Datenbasis der beiden ersten Gruppen den vorliegenden Berechnungen zugrunde gelegt. Die Erhebung von 2013 kam dabei auf 657 Anstellungsverhältnisse, diejenige von 2018 auf deren 681. In der vorliegenden Erhebung von 2023 summiert sich die Zahl von Anstellungsverhältnissen in der Sozialdiakonie (erste beide Gruppen) demnach auf 691.

Damit erweist sich die Zahl der Anstellungsverhältnisse im Rückblick der letzten fünf Jahre als bemerkenswert stabil bzw. ganz leicht steigend. Aus den vorliegenden Daten sind keine wesentlichen regionalen Unterschiedlichkeiten feststellbar.

Folgend Situation 2018: In einzelnen Kirchen ist der Anteil der Sozialdiakonie kleiner als 20% gegenüber dem Pfarramt (AR/AI, FR, GL, GR). In verschiedenen Kirchen steht das Verhältnis zwischen 20 und 50% (AG, BEJUSO, BL, LU, NW, SH, TG). Schliesslich gibt es Kirchen mit einem Verhältnis von über 50% Sozialdiakonie (SG, SZ, ZG, ZH).

In den Kirchgemeinden sind nicht nur anerkannte Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone im Sinne der Mindestanforderungen angestellt, sondern auch weitere Mitarbeitende ohne Anerkennung. Dieses Verhältnis ist teils sehr unterschiedlich. So sind in AG alle 48 Stellen durch Personen mit Anerkennung besetzt. In BEJUSO stehen 66 anerkannte Mitarbeitende 99 ohne Ausbildung gegenüber. In TG ist nur für 7 Stellen die Anerkennung notwendig, während die Qualifikationsfrage der 25 anderen Stellen im Ermessen der Gemeinden liegt.

Während verschiedene Kantonalkirchen ein einheitliches Gehaltsmodell kennen (AG, AR/AI, BEJUSO, FR, GR, SH), also alle Sozialdiakoninnen und -diakone in einer Gehaltsklasse entlohnen, arbeiten andere Kirchen mit mehreren Gehaltsklassen (BL, BS, GL, SG, SZ, TG, ZG, ZH). Hier werden die Personen je nach Anerkennung, Ausbildungsniveau, Stellenprofil und Hierarchie innerhalb zwei bis sechs Stufen entlohnt.

Verschiedene Kantone kennen Referenzberufe für die Einstufung. Dafür dienen zum Beispiel Sozialarbeiterinnen und – arbeiter (BEJUSO, SH, ZH) oder Primar- und Sekundärlehrkräfte (FR, GL, SG, SH, SO, TG).

Grundsätzlich besteht in den meisten Kantonalkirchen eine beachtliche Lohndifferenz zwischen Sozialdiakonie und Pfarramt. Zum Beispiel ist die Sozialdiakonie in AG dem Pfarramt rechtlich gleichgestellt, nicht aber finanziell, da sie dort mit den nicht ordinierten und nicht in die Gemeindeleitung einbezogenen Katechetinnen und Katecheten gleichgestellt sind. In BEJUSO werden der Sozialdiakonie im Gegensatz zur Kirchenmusik eigenständige Aufgaben des Gemeindelebens übertragen, dennoch ist es für einen Kirchenmusiker in gleicher Ausbildungsstufe möglich, deutlich mehr zu verdienen als ein Sozialdiakon.

Kantonalkirchliche Aspekte

In sämtlichen der befragten Kirchen gibt es ein Kirchen- bzw. Synodalratsressort für Diakonie, teilweise unter Zuordnung anderer Gebiete wie Migration, Jugend, den Werken, Spezialseelsorge oder Freiwilligenarbeit.

Sechs grössere oder mittelgrosse Kirchen verfügen zudem über eine Diakonie-Fachstelle, ausgestattet zwischen 60 und 900 Stellenprozenten. Die meisten Kantonalkirchen kennen Diakonatskapitel, -konvente oder selbständige Diakonievereine.

Thesen

Am Ende des Auswertungsberichts folgen einige Thesen und Anfragen, welche die Ergebnisse zusammenfassen und die wichtigen Diskussionspunkte für die Zukunft der Sozialdiakonie in der Schweiz nennen:

1. Die Unterschiede der kantonalen Ämterordnungen sind derart gross, dass nicht von der Sozialdiakonie, sondern von mehreren Sozialdiakonien zu sprechen ist. Legt sich hier eine Vielfalt an Ausbildungsstandards nahe?

2. Die Kirchen gehen mit dem vereinbarten Mindeststandard unterschiedlich um. Einige halten sich fest daran, andere verwenden den Standard als unverbindliche Orientierung. Muss hier ein Mindestmass an Verbindlichkeit festgehalten werden?

3. Ohne TDS Aarau und den CAS Diakonie Zürich könnte keine ausreichende Zahl von Sozialdiakoninnen und Sozialdiakonen rekrutiert werden. Es braucht eine genügende Anzahl von Ausbildungsgängen, die auf die Anforderungen der Mindeststandards zugeschnitten sind.

4. Die Jugendarbeit hat einen hohen Stellenwert, in den kantonalkirchlichen Ordnungen jedoch oft keinen Platz.

5. Die Kantonalkirchen werden ihren Bedarf an Sozialdiakoninnen und Sozialdiakonen in den nächsten Jahren kaum decken können, wenn die gesamte Personalfluktuation berücksichtigt wird.

6. Das Stellenverhältnis von Sozialdiakonie zu Pfarramt sagt auch etwas über den Stellenwert der Sozialdiakonie aus. Hier variiert die Situation in den Kirchen stark.

7. Das Berufsbild der Sozialdiakonie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich entwickelt und ausdifferenziert. In den Ämterordnungen ist dies nachvollzogen, in den Anstellungsbedingungen jedoch nicht.

Extra: Zur Geschichte der Sozialdiakonie in der Schweiz

Kirchliche Mitarbeitende neben dem Pfarramt waren in den Kirchgemeinden während langer Zeit kaum ein Thema. Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist verschiedentlich überliefert, dass sogenannte «Gemeindeschwestern» in Zusammenarbeit mit dem Pfarramt und der Kirchgemeinde vor Ort diakonisch aktiv waren. Die Gemeindeschwestern waren in der Regel Diakonissen, die von den Diakonissenmutterhäusern in die Gemeinden ausgesandt wurden, dort in der ambulanten Krankenpflege wirkten – und daneben gelegentlich finanzielle Unterstützung für Bedürftige organisierten, erste Ansätze von Jugendarbeit initiierten oder die Nachbarschaftshilfe unterstützten.

Ab den 1930er Jahren wurden in einzelnen Gemeinden sodann erste «Gemeindehelferinnen» und «Gemeindehelfer» angestellt (meistens noch Frauen). Ihre Zahl wuchs in der Nachkriegszeit, insbesondere bedingt durch den vorherrschenden Pfarrermangel und durch die sich ausdifferenzierenden Aufgaben der Kirchgemeinden.

Die steigende Zahl von Gemeindehelferinnen und Gemeindehelfern machte es in der Folge notwendig, Regelungen für deren Anstellung, Ausbildung und Tätigkeitsgebiete zu erlassen – zunehmend wurden kantonalkirchliche Reglemente und Richtlinien verabschiedet, es entstanden entsprechende Ausbildungsgänge und die Gemeindehelferinnen und Gemeindehelfer organisierten sich in der «Vereinigung evangelischer Gemeindehelferinnen und Gemeindehelfer».

Nach diesen ersten Ansätzen der Institutionalisierung des diakonischen Wirkens sahen sich die Kantonalkirchen herausgefordert, die Rolle des Diakonats grundlegender zu klären, seine Entwicklung zu reflektieren und ihm einen Platz unter den Diensten der Kirche zuzuweisen. Sie schlossen sich daher zu Beginn der 1990er Jahre zur «Übereinkunft sozialdiakonische Dienste» zusammen und schufen mit den «Mindestanforderungen» einheitliche Voraussetzung für die gegenseitige Zulassung. Hiessen die Betroffenen zuerst noch «Sozialdiakonische Mitarbeitende (SDM)», so wurde der Berufstitel im Jahr 2008 zu «Sozialdiakonin» bzw. «Sozialdiakon» umgewandelt.

Info: Der gemeinsame Ausbildungsstandard für Sozialdiakoninnen und -diakone in der Deutschschweiz

Die meisten der reformierten Kantonalkirchen der Deutschschweiz kennen in ihrem Wirken den Dienst der Sozialdiakonin/des Sozialdiakons (bzw. der Diakonin/des Diakons). In zahlreichen Kirchgemeinden sind die Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone in der Jugend- und Altersarbeit engagiert, sie begleiten und beraten Menschen in herausfordernden Lebenslagen und sie beteiligen sich an der lebensfreundlichen Gestaltung des Gemeinwesens.

Die Deutschschweizer Kirchen haben sich in den 1990er Jahren in der damaligen «Übereinkunft sozialdiakonische Dienste» zusammengeschlossen, um bald darauf mit den «Mindestanforderungen zur sozialdiakonischen Berufsausbildung» einen gemeinsamen Ausbildungsstandard zu schaffen – wohlwissend, dass das (sozial)diakonische Berufsbild unter den Kantonalkirchen aufgrund unterschiedlicher Traditionen und Schwerpunkte nicht immer identisch ist.

Das Regelwerk der Mindestanforderungen beinhaltet zum Ersten die Anforderung einer «doppelten Qualifikation» (sozialfachliche Ausbildung sowie kirchlich-theologischer Lehrgang) bzw. Mindestvorgaben an sozialwissenschaftlichen und kirchlich-theologischen Grundlagen sowie in sozialdiakonischem Handeln, die für eine Anerkennung als Sozialdiakonin/Sozialdiakon erforderlich sind. Zum Zweiten enthält das Regelwerk einen festgelegten Überprüfungsmechanismus, mit dem Kandidatinnen und Kandidaten in einem Äquivalenzprüfverfahren eine ausserordentliche Zulassung für ihre Tätigkeit als Sozialdiakonin/Sozialdiakon erlangen können.

Sozialdiakonische Konzepte

Verschiedene Kantonalkirchen haben eigene Diakoniekonzepte, Richtlinien oder Statuten verabschiedet:

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