Der Staat wird geschrumpft, seine Schutzfunktionen ausgehöhlt, während Polizei, Geheimdienste und Militär erstarken: Die Folgen dieses globalen Trends erfasst der Atlas der Zivilgesellschaft 2025, den Brot für die Welt zusammen mit Daten des CIVICUS-Monitors veröffentlicht hat – Zahlen, Interviews und Analysen aus fast zweihundert Ländern zeigen, wie gravierend die Freiheitseinbussen inzwischen sind. In nur noch 40 Staaten gelten die bürgerlichen Freiheiten als «offen». Damit leben bloss 284 Millionen Menschen, rund 3,5 Prozent der Weltbevölkerung, unter weitgehend ungehinderten Bedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement – ein erneuter Rückgang im Vergleich zum Vorjahr, als es noch vierzigfünf Staaten und 4 Prozent waren.
Ein Blick zurück: der Sturz binnen Jahresfrist
Der Rückfall ist spektakulär. Im Atlas 2024 hiess es noch, 71 Prozent der Menschheit lebten unter beschränkten oder geschlossenen Verhältnissen, heute sind es 85 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet das einen Sprung von 5,6 auf sieben Milliarden Menschen. Dass sich ein so grosser Teil der Welt in nur zwölf Monaten in Richtung grösserer Repression bewegt, illustriert die Geschwindigkeit, mit der autoritäre Regierungen Instrumente des Rechts für ihre Zwecke umwidmen – Rechtsbruch per Gesetz, wie es im Schwerpunktteil des Atlas heisst.
Länder wie Georgien, Kenia oder die Niederlande verlorenen 2024 ihren besseren Status; in allen Fällen reagierten die Regierungen auf Protest mit neu erlassenen Sicherheits- oder Transparenzgesetzen, deren unklare Definitionen jede Kritik kriminalisieren können. Im gleichen Atemzug erklärten sie gegenüber internationalen Gremien, man wolle bloss Terrorismus, ausländischen Einfluss oder «Fake News» zurückdrängen.
Wenn der Rechtsstaat zur Zielscheibe wird
Wer auf Gerichte setzt, lebt gefährlich. In Guatemala mussten drei Dutzend Richterinnen und Richter ins Exil gehen, weil sie Kriegsverbrechen verfolgten und Korruption anklagten. In Mexiko kündigten acht von elf Mitgliedern des Obersten Gerichtshofs ihren Rückzug an, nachdem das Parlament künftig Richter per Direktwahl bestimmen will – ein populistisches Verfahren, das Parteigänger begünstigt. Solche Beispiele ziehen sich wie ein roter Faden durch den Atlas: Justiz wird verächtlich gemacht, Urteile werden ignoriert oder Richterinnen und Richter als «Feinde des Volkes» gebrandmarkt.
Parallel verschärfen viele Staaten Gesetze gegen Nichtregierungsorganisationen. Pakistans Behörden versiegelten Tausende NGO-Büros mit dem Verweis auf die Geldwäscheregeln der Financial Action Task Force. Ähnlich verfahren Nicaragua oder Simbabwe, wo neu gefasste «Agenten»- und «Anti-Lobbying»-Gesetze die Schliessung kritischer Organisationen erlauben.
Medienfreiheit unter Beschuss
Pressevertreterinnen und Pressevertreter sind häufig die ersten, die die Einschnürung spüren. Neuerdings genügt der Vorwurf, Desinformation zu verbreiten oder die «öffentliche Ordnung» zu stören, um Redaktionen zu schliessen, Web-Server abzuschalten oder Journalistinnen und Journalisten anzuklagen. Angola verabschiedete 2024 ein Sicherheitsgesetz, das dem Präsidenten ermöglicht, Sendungen innert Minuten abzuschalten. Indonesiens geplantes Rundfunkgesetz würde investigatives Material nur noch zulassen, wenn es die Regierung nicht diskreditiert. Zugleich werden Desinformationsbekämpfung und Hassrede auf Social-Media-Plattformen als Vorwand genutzt, um missliebige Inhalte niederzuhalten – während Tech-Milliardäre wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg Moderationsregeln ausdünnen und den Begriff «Zensur» politisch aufladen.
Trotzdem resignieren Bewegungen nicht. Frauen in Nairobi erstritten Schadenersatz für geschlechtsspezifische Übergriffe im öffentlichen Nahverkehr; Klima-Aktivistinnen klagen weltweit gegen Regierungen, die ihre Klimaziele verfehlen; indigene Gemeinden verteidigen ihr Land vor multinationalen Konzernen. Solche Erfolge zeigen, dass Gerichte – wenn sie unabhängig bleiben – ein Gegenpol zur «Rule by Law» sein können. Doch sie geraten zunehmend selbst unter Feuer: Populistische Parteien attackieren die richterliche Unabhängigkeit, etwa in Israel, Polen oder Tunesien.
Selbst in der Europäischen Union ist der «offene» Raum ein rares Gut. CIVICUS führt nur noch zwölf der 27 Mitgliedstaaten in der obersten Kategorie. Deutschland, Frankreich und Österreich gelten als «beeinträchtigt», die Niederlande rutschten 2024 erstmals dorthin zurück. Ungarn und Griechenland stehen gar eine Stufe tiefer, als «beschränkt».
Fokus Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich
In der Schweiz bestätigt der CIVICUS-Monitor weiterhin den Status «offen». Mit 82 von 100 Punkten liegt das Land in Europas Spitzengruppe; dennoch warnen Menschenrechtsorganisationen vor zunehmenden Hürden für Seenotrettungs-Kampagnen und vor kantonalen Gesetzen, die spontane Demonstrationen kostenpflichtig machen könnten.
Deutschland verweilt seit 2022 im Feld der «beeinträchtigten» Länder. Zu den Gründen zählt der Atlas unter anderem ein restriktives Versammlungsrecht in mehreren Bundesländern, verdeckte Überwachung von Klima-Aktivistinnen und ein härterer Ton gegen pro-palästinensische Proteste. Die Polizei setzte vermehrt Schmerzgriffe ein; das Vertrauen in staatliche Organe sinkt, wie Studien im Klimabereich zeigen.
Österreich verzeichnet – durchaus überraschend – eine Aufwertung: CIVICUS stufte das Land 2024 wieder als «offen» ein. Ein Grund ist das weitgehend verhältnismässige Vorgehen der Behörden gegen Klima-Proteste. Gleichwohl wird hart über ein neues «Sicherheitspaket» gestritten, das breitere Überwachungsbefugnisse vorsieht.
Frankreich dagegen bleibt «beeinträchtigt». Nach den Gelbwesten-Demonstrationen und den Protesten gegen die Rentenreform 2023 steht die Polizei weiter in der Kritik. EU-Justizkommissar Didier Reynders sprach von einer «sehr hohen Gewaltbereitschaft» der Sicherheitskräfte und mahnte eine Reform der Einsatzdoktrin an. Demonstrationen pro Palästina führten 2024 erneut zu Platzverweisen, Tränengaseinsätzen und gerichtlichen Auflagen.
Globale Machtspiele und koloniale Argumente
Autoritäre Regierungen rechtfertigen ihre Einschränkungen häufig mit dem Verweis auf nationale Souveränität oder «traditionelle Werte». In Uganda bedrohen neue Anti-Homosexualitätsgesetze nicht nur LGBTQIA-Personen, sondern kriminalisieren auch alle, die ihnen juristisch oder humanitär beistehen – ein Vorgehen, das Präsident Yoweri Museveni als Abwehr «westlicher Dekadenz» verkauft. Solche Narrative gewinnen an Boden, weil westliche Staaten mit Doppelstandards operieren, etwa wenn sie Menschenrechtsverletzungen im eigenen Einflussbereich relativieren oder Waffen in Krisengebiete liefern. Der Globale Süden erinnert in UNO-Debatten regelmässig daran, dass die Durchsetzung von Menschenrechten ohne Gleichbehandlung unglaubwürdig bleibt.
Der Atlas schliesst mit klaren Forderungen: Rechtsstaatliche Institutionen müssen gestärkt, internationale Gerichtsurteile umgesetzt, Menschenrechtsverteidigerinnen geschützt werden. Deutschland solle im In- und Ausland kompromisslos für unabhängige Justiz, freie Medien und transparente NGO-Regeln eintreten und zugleich das Gemeinnützigkeitsrecht reformieren, damit demokratisches Engagement nicht länger unter Generalverdacht steht. Denn die Wucht der Angriffe auf Freiheitsrechte zeigt: Ohne entschiedene Gegenwehr von Politik, internationaler Gemeinschaft und Zivilgesellschaft droht der noch offene Raum für freies Denken vollends zu verschwinden.