Unerklärte Lohnunterschiede: Warum Frauen in der Schweiz oft weniger verdienen

Unerklärte Lohnunterschiede: Warum Frauen in der Schweiz oft weniger verdienen

Eine neue Studie zeigt, dass Frauen durchschnittlich 16 Prozent weniger Lohn erhalten als Männer – selbst wenn Faktoren wie Ausbildung oder Berufserfahrung berücksichtigt werden. Rund sieben Prozent dieser Differenz bleiben unaufgeklärt und werfen Fragen zu tief verwurzelten Rollenmustern auf.

Die vorliegende Studie untersucht die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern in der Schweiz anhand der Lohnstrukturerhebung 2022. Sie bietet eine aktualisierte Fassung bereits etablierter Analysen, indem sie neueste Daten des Bundesamts für Statistik aufgreift und sie mit den Resultaten der Erhebungen der Vorjahre vergleicht. Dabei geht es einerseits um die deskriptive Darstellung von Löhnen und Beschäftigungsverhältnissen in unterschiedlichen Branchen, Berufen und Regionen. Andererseits führt die Studie eine differenzierte Zerlegung der Lohndifferenzen durch und zeigt auf, wie viel des geschlechterspezifischen Lohnunterschieds sich durch Merkmale wie Ausbildung, Beruf, Branche oder Unternehmensgrösse erklären lässt und welcher Rest unausgewiesen bleibt. Dieser sogenannte unerklärte Anteil wird häufig als «bereinigte» oder «Residuallohndifferenz» bezeichnet. Im Kern steht somit die Frage, ob Lohnunterschiede hauptsächlich auf objektiv nachweisbaren Unterschieden basieren oder ob sie womöglich auf Effekte zurückgehen, die sich nicht allein mit Aus- und Weiterbildungsniveaus, Berufserfahrung und Pensum erklären lassen.

Die Studie zeigt erstens, dass der Bruttomonatslohn der Männer nach einer Vollzeitstandardisierung im arithmetischen Mittel rund 8398 Franken beträgt, während Frauen durchschnittlich 7034 Franken erreichen, was einer Lohndifferenz von 16.2 Prozent entspricht. Dieser Wert basiert auf der gesamten Stichprobe, also auf mehreren Millionen Erwerbstätigen aus dem sekundären und tertiären Sektor, erfasst von über 30000 Unternehmen. Im privaten Sektor fällt dieser Unterschied mit 17.5 Prozent etwas grösser aus als im öffentlichen Bereich, wo er bei 13.8 Prozent liegt. Als zweite Kenngrösse wird häufig das Medianeinkommen angeführt, bei dem im gleichen Datensatz eine geschlechtsspezifische Differenz von 10.6 Prozent ermittelt wird. Dieses geringere Ergebnis bei den Medianeinkommen unterstreicht, dass hohe Einkommen und damit verbundene Abweichungen überproportional auf das arithmetische Mittel wirken.

Interessant ist der tiefergehende Blick in einzelne Wirtschaftsbereiche. Die Branchen unterscheiden sich teils markant, sowohl was die absoluten Löhne als auch was die Lücke zwischen Frauen- und Männerlöhnen betrifft. Sehr ausgeprägt ist der Unterschied in hoch spezialisierten Segmenten wie im Finanz- und Versicherungswesen, wo die Bruttomonatslöhne an der Spitze liegen, zugleich aber die Schere zwischen den Geschlechtern auf rund 30 Prozent Differenz im Durchschnitt steigt. Dort, wo der Frauenanteil insgesamt hoch ist, beispielsweise im Gesundheits- und Sozialwesen, nimmt man zwar wahr, dass Frauen strukturell dominieren, jedoch liegen die erzielten Löhne im Durchschnitt insgesamt niedriger. Eine ebenfalls grosse Streuung besteht zwischen Grossregionen: Während in der Genferseeregion mit rund 10 Prozent die geringsten geschlechterspezifischen Differenzen beobachtet werden, klafft die Lücke in Zürich mit fast 19 Prozent deutlich weiter auseinander.

Um herauszufinden, welche Faktoren diese Lohnunterschiede konkret beeinflussen, verwendet die Studie eine ökonometrische Methode, die auf der logarithmierten Lohnstruktur aufbaut. Damit lässt sich der Anteil der Differenz berechnen, der statistisch gesehen durch beobachtbare Merkmale erklärt werden kann, sowie der sogenannte «unerklärte» Anteil, der bestehen bleibt, wenn man die Löhne von Frauen und Männern mit vergleichbaren Qualifikationen, Branchen, Berufen und Beschäftigungsumfängen einander gegenüberstellt. Diese Form der Analyse müsse man korrekt interpretieren, so die Studie. Tatsächlich gebe es viele mögliche Gründe dafür, dass Frauenlöhne im Schnitt niedriger liegen, zum Beispiel Unterschiede in der Verhandlungsstrategie, in sozialen Normen oder in institutionellen Karrierewegen, die sich statistisch nicht oder nur unvollständig messen lassen. Allerdings vermag die Studie klar zu belegen, dass selbst bei Berücksichtigung vieler relevanter Variablen ein gewisser Lohnunterschied bestehen bleibt, der sich nicht auf beobachtbare Kriterien zurückführen lässt.

Die aktuellsten Zahlen aus der Lohnstrukturerhebung 2022 weisen in der Gesamtwirtschaft eine geschlechtsspezifische Lohndifferenz von rund 14.6 Prozent auf Basis logarithmierter Löhne aus. Etwa 52 Prozent davon lassen sich durch die berücksichtigten Faktoren wie Beruf, Ausbildung, Branche, Region oder Unternehmensgrösse erklären. Übrig bleiben ungefähr 7 Prozent als unerklärter Teil. Das bedeutet, dass Frauen mit vergleichbaren Merkmalen im Durchschnitt rund 7 Prozent weniger Lohn erhalten als Männer. Ein Blick auf die Zeitreihe lässt erkennen, dass diese «bereinigte» Differenz in früheren Erhebungen etwas höher lag. So lag sie 2020 bei 7.8 Prozent und ist damit in den letzten zwei Jahren – trotz diverser externer Faktoren wie dem weitreichenden Einfluss der Pandemie – etwas gesunken. Allerdings bleibt abzuwarten, ob es sich dabei um eine dauerhafte Entwicklung handelt oder ob in Zukunft wieder Schwankungen erkennbar sein werden, zumal solche Veränderungen auch innerhalb der statistischen Unsicherheit liegen.

Die Studie zerlegt zudem die Lohndifferenzen nach Sektoren: Im öffentlichen Dienst liegen die Bruttolöhne der Frauen zwar ebenfalls zurück, aber das Gefälle ist etwas weniger stark als in der Privatwirtschaft. Im öffentlichen Bereich beläuft sich die Gesamtdifferenz auf 13.5 Prozent, wobei etwa die Hälfte durch Strukturmerkmale erklärt werden kann, sodass am Ende ein unerklärter Anteil von 6.7 Prozent verbleibt. Im privaten Sektor ist die Gesamtdifferenz mit 16 Prozent höher, aber immerhin 55 Prozent davon sind über Beobachtungsvariablen nachvollziehbar. Frauen erhalten bei ähnlichen Merkmalen also im privatrechtlich organisierten Teil des Arbeitsmarkts rund 7.2 Prozent weniger Lohn.

Betrachtet man verschiedene Altersgruppen, tritt ein deutliches Muster bezüglich der Differenz zutage. Bei Frauen und Männern unter 30 Jahren liegt sie relativ gering, bei jenen über 50 steigt sie signifikant an. Eine ähnliche Tendenz spiegelt sich beim Zivilstand. Während Ledige eine geringere unerklärte Differenz aufweisen, ist sie bei Verheirateten merklich höher. Der Befund deutet an, dass sich spätestens ab jener Lebensphase, in der Familiengründung und Kinderbetreuung häufig anstehen, Erwerbsbiografien der Geschlechter messbar stärker auseinanderentwickeln. Die Autorinnen und Autoren der Studie machen keine normativen Aussagen, verweisen jedoch auf die Möglichkeit, dass sich tradierte Rollenbilder in der Arbeitsverteilung niederschlagen. So ist der Teilzeitgrad unter Frauen sehr viel höher als bei Männern, was in der Gesamtstatistik zu einem tieferen Durchschnittslohn führt. Doch selbst wenn man das Pensum herausrechnet, bleibt eine Lücke bestehen. Auch beim Thema Kaderfunktionen lässt sich eine ähnliche Dynamik erkennen. Auf tieferen Hierarchiestufen fällt die unerklärte Differenz deutlich geringer aus als auf höheren Stufen, sodass sich die Schere bei Beschäftigten im oberen Kaderbereich zusätzlich weitet.

In einem Vergleich mit älteren BFS-Analysen ergibt sich ein recht stabiles Bild: Die Lücke geht tendenziell minimal zurück, aber kein sprunghafter Wandel lässt sich feststellen. Sowohl in den frühen 2000er-Jahren als auch 2010er-Jahren war der unerklärte Anteil nie vollkommen verschwunden. Obschon die Schweiz in Bezug auf soziale Themen immer wieder Reformen angeht, ist die Geschlechtergleichstellung im Erwerbsleben ein persistentes Anliegen. Auch die Einbettung in den internationalen Kontext zeigt, dass fast alle vergleichbaren Industrienationen ein ähnliches Phänomen haben, oft mit ähnlicher Grössenordnung. Dies weist darauf hin, dass trotz Rechtsvorschriften gegen Lohndiskriminierung, trotz Sensibilisierungskampagnen und längst etablierten Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Frauen eine strukturelle Ungleichheit bleibt.

Gerade vor dem Hintergrund einer Reformierten Sozialdiakonie in der Schweiz kann diese Studie Denkanstösse bieten. Sozialdiakonische Arbeit zielt traditionell darauf ab, Menschen in verschiedenen Lebenslagen Unterstützung zu gewähren, ihnen Gerechtigkeit und Partizipation zu ermöglichen. Wenn wir nun die hier analysierten Daten betrachten, drängt sich der Gedanke auf, dass Ungleichheiten am Arbeitsmarkt sich nicht nur in Zahlen äussern, sondern in konkreten Alltagsproblemen sichtbar werden: tiefere Renteneinnahmen bei Frauen, Abhängigkeiten in Partnerschaften, Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und gegebenenfalls auch Minderwertigkeitsgefühle, wenn man für gleiche Tätigkeiten weniger Lohn erhält. Eine Diakonie, die sich für Chancengerechtigkeit einsetzt, sollte daher ein klares Bewusstsein dafür haben, dass Lohnfragen nie nur privates Verhandlungsresultat sind, sondern in einem grösseren sozialen Kontext verankert liegen.

Die Einsichten dieser Analyse lassen sich ebenfalls darauf übertragen, wie Sozialdiakonie künftig ausgerichtet sein kann. Wenn man von biblischen Impulsen der Gerechtigkeit und Würde ausgeht, scheint es naheliegend, Menschen in Transitionen oder Krisenphasen zu begleiten, in denen sich Lohnungleichheiten besonders bemerkbar machen. Ein typisches Beispiel wäre die Rückkehr in den Beruf nach einer Elternpause oder auch die Situation von Frauen, die im Alter plötzlich feststellen, dass ihre Altersvorsorge unzureichend ist.

Im Vergleich zu ähnlichen Studien in anderen Ländern zeigt sich, dass auch international zwischen etwa drei Fünfteln und der Hälfte der Lohnunterschiede auf objektiv erfassbare Faktoren zurückzuführen sind, während sich stets ein beträchtlicher Anteil den gängigen Erklärungsvariablen entzieht. In vielen OECD-Staaten bewegt sich die bereinigte Differenz auf ähnlichem Niveau, wobei kulturelle und arbeitsmarktspezifische Eigenheiten zu Abweichungen führen können. Die Schweizerische Lohnstrukturerhebung ist im Vergleich relativ detailliert, sodass die hier präsentierten Zahlen als methodisch robust gelten. Dennoch ist sie kein Allheilmittel, das alle sozialen und rechtlichen Nuancen erfasst. Gerade darum bietet die Studie einen immer wieder kehrenden Weckruf, den man im Kontext kirchlicher Arbeit aufnehmen kann: Hinter den statistischen Werten stehen Lebensgeschichten, und Diakonie versteht sich ja gerade als Dienst am Menschen, der all diese Hintergründe mitbedenkt.

Die Studie selbst kommt zu dem Fazit, dass sich die Lücke zwar verringert, aber kontinuierliche Anstrengungen nötig sind, um Frauen und Männer in gleichwertiger Weise am Arbeitsmarkt partizipieren zu lassen. Sie betont, dass Arbeitsmarktpolitik, Unternehmensstrategien und individuelle Faktoren alle zusammenwirken. Im Kontext der Reformierten Sozialdiakonie, die sich seit jeher für gesellschaftliche Verantwortung einsetzt, kann man dies als Aufforderung lesen, ein Netzwerk von Unterstützung, Beratung und Lobbying auszubauen.

Am Ende bleibt die Einsicht, dass Lohnunterschiede eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sind. Die empirische Evidenz aus der Schweizer Lohnstrukturerhebung 2022 zeigt klar, dass wir noch ein Stück von wirklicher Gleichstellung entfernt sind. Zwar ist in den Daten ein kleiner Fortschritt sichtbar, aber der unerklärte Anteil von ungefähr 7 Prozent ist weiterhin beachtlich. Er bedeutet, dass zahllose Frauen in alltagsrelevanten Grössenordnungen schlechter entlohnt werden, als es rein anhand ihrer Ausbildung, Berufserfahrung und Tätigkeit zu erwarten wäre. Im Gegensatz zu früheren Epochen, in denen man oft nur Mutmassungen anstellen konnte, liefert die Statistik heute einen präzisen Blick auf das Geschehen. Aus einer reformierten Perspektive liesse sich schliessen, dass christliche Gerechtigkeitsvorstellungen sich nicht mit diesem Status quo zufriedengeben können. Im Sinne einer zukunftsorientierten Sozialdiakonie heisst das, Menschen zu ermächtigen, ihre Rechte zu verteidigen, und zugleich politische, wirtschaftliche und kulturelle Hebel in Gang zu setzen, damit sich Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier vollzieht.