Weniger ist mehr: Demenz als Herausforderung für Kirchgemeinden

Weniger ist mehr: Demenz als Herausforderung für Kirchgemeinden

Demenz fordert auch Kirchgemeinden heraus. Wie Kirchen auch für Menschen mit einer demenziellen Erkrankung weiterhin eine einladende Gemeinschaft bilden können, diskutierten rund 70 Teilnehmende der Nationalen ökumenischen Tagung Palliative Care Ende Oktober in Bern. Eingeladen hatten die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz und die Schweizer Bischofskonferenz.

„Diese ökumenische Tagung beleuchtete das Thema der demenzsensiblen Kirchgemeinde aus ganz verschiedenen Richtungen – theologisch, gerontologisch und praktisch“, so Theres Meierhofer-Lauffer, Co-Präsidentin der Fachgruppe Palliative Care der Diakonie Schweiz. „Jeder Impuls der Referentinnen und Referenten wäre es wert gewesen, vertiefter diskutiert zu werden.“

Ziel dieser Vernetzungstagung sei jedoch nicht Weiterbildung gewesen, sondern eine Sensibilisierung dafür, dass in Kirchgemeinden im Umgang mit Menschen mit Demenz Handlungsbedarf bestehe. „Unsere Veranstaltung hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass es keine ressourcenintensiven Projekte braucht, sondern gemeinsames Lernen und Ausprobieren. Menschen mit Demenz sollen sich im Gottesdienst und bei Kirchgemeindeveranstaltungen willkommen und getragen fühlen“, so Pascal Mösli, ebenfalls Co-Präsident der Fachgruppe Palliative Care.

Der Theologe und Mediziner Thierry Collaud zeichnete Mechanismen nach, die zum Ausschluss von Menschen mit Demenz führten. Menschen mit Handicaps herunterzustufen, sie zu ignorieren, die Verantwortung in professionelle Hände zu transferieren, Erkrankte zu versachlichen und zu verkindlichen sei typisch, so Collaud gemäß Tagungsbericht. Diese Faktoren des Ausschlusses verstärkten sich gegenseitig. Menschen mit Demenz würden als nicht mehr nützlich für die Gesellschaft stigmatisiert. Positive Merkmale gingen vergessen: Oft seien sie sensibler und menschlicher.

Um Menschen mit einer demenziellen Erkrankung wieder in unsere Gemeinschaft zu integrieren, brauche es Flexibilität im Kopf und ein Hinterfragen der Vorurteile. Der Raum der christlichen Gemeinschaft solle nicht bedrohlich oder verurteilend sein. Collaud stellte laut Bericht den „potentiellen Raum“ vor, in dem Vertrauen herrsche. Es sei ein Ort des Schenkens, der Resonanz, der Überraschung und der Ruhe.

Die Ergebnisse einer Demenzstudie in Deutschland legte Antje Koehler von der Fachhochschule Köln vor. Die Umfrage lege offen, dass Angehörige von Demenzerkrankten sich mehr Kenntnis und Sensibilität in Kirchgemeinden wünschten, so Koehler laut Bericht. Menschen mit Demenz seien in Gemeinden wenig sichtbar, es gebe einen Rückzug aus Scham, Unsicherheit der anderen Seite führe zur Ausgrenzung.

Nicht zusätzliche Angebote müssten geschaffen, sondern Bestehendes inklusiver gemachen werden. Als Beispiele nannte die Referentin Gottesdienste mit allen Sinnen, Familiengottesdienst, die im Altenheim gefeiert würden, Aushänge und dezidierte Einladungen sowie Beteiligungsangebote statt Hilfsangeboten.

Die Erfahrungen zeigten, dass es an den meisten Stellen gar nicht um grosse Projekte, sondern um kleine Schritte gehe. Viele Ideen seien ohne grossen Aufwand umzusetzen. Andere brauchten Zeit, fachliche Kompetenzen und finanzielle Ressourcen. Jeder Kirchgemeinde seien jedoch Schritte möglich, auch wenn sie noch so unbedeutend erscheinen mögen, so Koehler.

Menschen mit Demenz könnten weiterhin etwas geben, so Koehler. Sie plädierte eine kreative Art des Einfühlens. Die Inklusion sei ein Gemeindeentwicklungsthema, nicht nur eines der Diakonie. Sorgen der Gemeinde sollten ernstgenommen und nicht moralisch abgewiesen werden.

Roland Wuillemin und Monika Hänggi berichteten über ihre Erfahrungen im Zürcher Projekt «Drehscheibe Demenz». Ihre Kirchgemeinde bietet ein Tagesstrukturprojekt für Erkrankte und Angehörige an. Demenzfreundlich bedeute für sie, alle Veranstaltungen zu öffnen, eine Durchmischung zu fördern und auch verfügbar zu sein. So müssten Mitarbeitende ansprechbar und präsent sein. Wuillemin und Hänggi machten laut Bericht Mut, sich auszuprobieren, da es keine Patentrezepte im Umgang mit Menschen mit Demenz gebe. Sie rieten dazu, den Blickwinkel auf Demenz zu verändern: nicht als Defizit, sondern als eine Phase im Alter.

Andrea Mühlegg, Demenzexpertin und Leiterin des Sonnweid Campus in Wetzikon, verdeutlichte, dass Demenz Verlangsamung und einen anderen Lebensrhythmus bedeute. Die erkrankten Menschen nähmen Abschied von den Spielregeln unserer Kultur und könnten alle gesellschaftlichen Abmachungen nicht mehr einhalten, wenn sie erkrankten. Oft reagiere das Umfeld peinlich berührt und irritiert, Bekannte wendeten sich ab und seien überfordert, ohne es zu wollen. Mühlegg unterstich für solche Situationen grundsätzlich: «Niemand hat Schuld.»

Trotz aller Öffnung sei Demenz immer noch ein Tabuthema. Hier helfe es Wissen und Erfahrungen zu erweitern. Menschen mit Demenz bleibe ihre Gefühlsebene bis zuletzt erhalten. Sie spürten weiterhin, ob sie willkommen seien, sie verlören nur das Erlernte.