Betreuungsarbeit hat heute noch keinen Stellenwert
Patchworkfamilien, mehr kinderlose Erwachsene, zunehmend erwerbstätige Frauen und grössere Distanzen zwischen den Wohnorten von Familienangehörigen: die Gesellschaft verändert sich, und mit ihr die Bedingungen für die Betreuung der grösser werdenden Gruppe der Betagten. „Die Rolle der Betreuung und ihre Finanzierung werfen für die Schweiz neue Fragen auf“, betont die Paul Schiller Stiftung PSS. „Gute Betreuung im Alter. Perspektiven für die Schweiz“ lautet der Titel einer dazu jüngst veröffentlichten Studie.
2013 leisteten Angehörige in der Schweiz 42 Millionen Stunden Betreuungs- und Pflegearbeit für Verwandte und Bekannte. Dies entspräche 3,36 Milliarden Franken. Im Vergleich dazu erbrachten alle Spitex-Organisationen zusammen Leistungen im Wert von 1,93 Milliarden Franken. Längst nicht alle hilfsbedürftigen Menschen können sich eine professionelle Betreuung leisten. Ein soziales Ungleichgewicht zeichnet sich ab, warnt die Stiftung: es droht eine Zweiklassengesellschaft. Die Anfragen an Hilfsorganisationen nehmen demnach zu. Und die bisherigen Leistungen der öffentlichen Hand seien aus steuerpolitischen Gründen vom Abbau bedroht.
Botschaften
„Wir müssen in der Schweiz heute darüber nachdenken, wie wir morgen in Würde alt werden können“, stellt die Paul Schiller Stiftung fest. Um ein zunehmendes soziales Ungleichgewicht im Alter zu vermeiden, ist ein neues Verständnis für die Betreuung im Alter notwendig, so die PSS. Vier Botschaften sollen dazu einen „fachlichen und politischen Diskurs anstossen“. Alle Menschen haben demnach ein Recht auf würdiges Altern. Dafür brauche es eine gesetzliche Regelung für ein Anrecht auf eine umfassende Betreuung. Die Alterspolitik des Bundes wurde bisher zu wenig umgesetzt, heisst es weiter: Selbständigkeit und Autonomie im Alter müssten mehr berücksichtigt werden. Dazu brauche es eine ganzheitliche Sicht auf die Unterstützung betagter Menschen. Mit der Pflegeprofessionalisierung gehe ein umfassendes Betreuungsverständnis immer weiter verloren. Betagte Menschen benötigten Betreuungs- und Pflegelösungen, „bei denen die zwischenmenschliche Beziehung und Wertschätzung einen wichtigen Platz einnimmt“. Schliesslich brauchen Familien Entlastung, stellt die Stiftung fest. Familienangehörige könnten die Betreuung betagter Menschen nicht mehr alleine sicherstellen.
Forderungen
Die öffentliche Hand muss ihre Aktivitäten im Bereich der Altersbetreuung deutlich verstärken, stellt die PSS fest: „Gesellschaftspolitisch braucht es Lösungen, welche den Wert professioneller Betreuungsleistungen anerkennen und die weiterhin wichtige Betreuung durch Familienangehörige oder das soziale Umfeld aufwerten und stärken.“
Betrug die Zahl der Rentnerinnen und Rentner 2015 noch 1,5 Millionen, wird sie nach Schätzungen des Bundes 2045 auf 2,7 Millionen ansteigen. Auf Bundesebene muss die Betreuung gleichwertig wie das Pflegewesen als Teil der Grundversorgung gesetzlich verankert werden, fordert die Schiller Stiftung. Nur dann könne die Betreuung bestimmte Qualitätsstandards erfüllen und fände Eingang in die berufliche Aus- und Weiterbildung. Eine sinnvolle Unterstützung älterer Menschen sei zudem nur im engen Zusammenspiel zwischen Betagten, Familien, nachbarschaftlichen Netzwerken, Akteuren der Versorgung und politischen Trägern möglich.
Das Zusammenspiel von Betreuung und Pflege brauche Strukturen, welche die zeitliche Dimension der Betreuungsarbeit genügend berücksichtigen und den Austausch zwischen den Beteiligten möglich machen: „Im Fokus stehen die Entschleunigung der Betreuungsarbeit im professionellen Bereich sowie angemessene Entlastungsmöglichkeiten für Angestellte und Angehörige.“
Die einzelnen Akteure wirken noch zu wenig zusammen, stellt die PSS abschliessend fest. Insbesondere die Gemeinden, aber auch zivilgesellschaftliche und kirchliche Gemeinschaften seien gefordert, notwendige Voraussetzungen zu schaffen, damit ältere Menschen möglichst lange zu Hause leben können.
Der Beitrag der Sozialdiakonie
Wie kommen hier Sozialdiakonie und Kirche in Spiel? „Die Kirchen verfügen über die am besten etablierten und feinmaschigsten sozialen Netze, sie sind Institutionen vor Ort“, betont der Ethiker Frank Mathwig, selbst Teil der Podiumsdiskussion zur Vorstellung der Studie: „Sie können zunehmend wieder die soziale Bedeutung erlangen, die sie lange Zeit in unserer Gesellschaft hatten: als Kommunikations-, Begegnungs-, Vernetzungs-, Unterstützungs- und Solidaritätszentren.“ Letztendlich sei Diakonie nicht irgendeine Leistung der Kirche, sondern gehöre unauflösbar zu ihrem Wesen. Kirche “kann also gar nicht anders, als diakonische Kirche bei den Menschen zu sein”.
Darüber hinaus zeichnete sich Kirche durch eine Eigenart aus, die staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen „erst lernen“ müssten, und zwar „die konstitutive Zusammenarbeit von Professionals und Laien“. Diese strukturellen Merkmale seien wesentlich für die Etablierung von Betreuungskonzepten. Mathwig: „Die Umsetzung seitens der Kirchen verlangt eigentlich nur, dass sie sich ihr Selbstverständnis, ihren Auftrag und ihre genuinen Ressourcen vergegenwärtigen.“
Pflegende Angehörige leisten für die Gesellschaft unersetzbare Dienste – und doch werden sie kaum wahrgenommen: Sie kommen in öffentlichen Debatten weder zu Wort, noch sind sie Gegenstand sozialpolitischer Programme.