Diakonie-Charta: Durchstarten für ein soziales Europa
Was macht ein gerechtes Europa aus und wie müsste Sozialpolitik dafür gestaltet werden? Die Diakonie Deutschland hat dafür mit der „Diakonie-Charta für ein soziales Europa“ konkrete Vorschläge.
Europa geht durch stürmische Zeiten und Europa muss sozialer werden, sagt Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Aussen umgeben von Krisenherden, innen mitgetragen von Ländern, welche ihre Grundwerte verletzen. Uneinigkeit herrscht über entscheidende Fragen wie die der Flüchtlingsaufnahme. Populistische Bewegungen haben Zulauf.
In diese Situation hinein hat die Diakonie Deutschland im vergangenen Jahr mit der Diakonie-Charta für ein soziales Europa ein Grundsatzpapier zum Sozialen Europa vorgelegt. Ohne ein starkes gemeinsames soziales Engagement mit verbindlicheren Vorgaben als bisher habe die Europäische Union keine Zukunft. Der Diakonie gehe es darum, „der unantastbaren Würde jedes Menschen in der Ausgestaltung des Sozialen zu entsprechen“. Menschen sollen Verantwortung übernehmen und sich aktiv in die Gestaltung des Miteinanders einbringen können.
Material
Die Situation in Europa
120 Millionen Menschen oder 25 Prozent der EU-Bevölkerung – zum Vergleich 24 Prozent in der Schweiz – war 2015 von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das höchste Armutsrisiko haben dabei die Kinder. Mehr als 8 Prozent der EU-Bürger haben dabei so wenige Ressourcen, dass sie zum Beispiel ihre Wohnungen nicht ausreichend beheizen können. EU-weit sinkt das Armutsrisiko für Menschen, die Sozialtransfers erhalten, auf 17 Prozent, in der Schweiz auf 14 Prozent. Ein besonderes Problem bleibt in nahezu allen Ländern die Langzeitarbeitslosigkeit.
Die Europäische Union hat sich bis 2020 einen Wachstumskatalog auferlegt, der unter anderem drei sozialpolitische Politikfelder beinhaltet. So sollen bis 2020 75 Prozent der 20- bis 64-Jährigen in Arbeit sein. Die Quote vorzeitiger Schulabgänger soll auf unter 10 Prozent sinken, der Anteil der 30-34-Jährigen mit Hochschulbildung soll auf mindestens 40 Prozent steigen. Die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Menschen soll um 20 Millionen gesenkt werden. Die Zwischenbilanz fällt jedoch nüchtern aus. Die Beschäftigungsquote lag 2015 knapp unter dem Ausgangswert von 70 Prozent von 2008, und die Zahl der armutsbetroffenen Personen war 2015 gar eine Million höher als sieben Jahre zuvor.
Die Forderungen der Diakonie-Charta
Die Diakonie-Charta fordert soziale Mindeststandards wie eine menschenwürdige Grundsicherung und eine Arbeitslosenversicherung in allen 27 EU-Staaten. Weiter sei eine ausgewogene Balance zwischen der immer noch dominierenden Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik anzustreben. Schliesslich fordert die Diakonie eine Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft, die „ein wichtiger Player für die Stabilisierung partizipativer Demokratie in Europa“ sei.
Bei der Abdeckung der Lebenskrisen müsse sichergestellt werden, „dass kein gravierender sozialer Abstieg erfolgt“. Jugendbeschäftigungsinitiativen seien zu entbürokratisieren. Weiter schlägt die Diakonie Deutschland vor, die EU-Mitgliedsstaaten zu „angemessenen nationalen Mindestlöhnen“ zu verpflichten. Eine generelle Erhöhung des Renteneintrittsalters sowie eine starre Kopplung dieses Alters an die steigende Lebenserwartung lehnt die Diakonie Deutschland ab.
Nötig sei schliesslich ein „Durchstarten“ für ein soziales Europa. Deshalb plädiere die Diakonie für die Einberufung eines Konventes für ein soziales Europa. Er solle Vorschläge entwickeln, wie Sozialschutz und soziale Rechte gestaltet und gesichert werden können. Auf Augenhöhe sollte die Zivilgesellschaft mit Kirchen, Sozialpartnern und der Politik an diesem Konvent teilnehmen.
Die Diakonie-Charta sei kein Endprodukt, betont Maria Loheide: „Sie soll zur weiteren Diskussion auf allen Ebenen innerhalb und ausserhalb der Diakonie anregen. Sie will ein Zeichen setzen für ein friedliches, geeintes und solidarisches Europa.“
Eine europäische Vision von 1994
1994 hat die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) eine vielbeachtete Erklärung mit dem Titel „Auf dem Weg zu einer Vision von Diakonie“ herausgegeben. In dieser sogenannten „Bratislava-Erklärung“ skizzierten die Kirchen Europas bereits wenige Jahre nach dem Mauerfall die Herausforderungen für eine zukünftige soziale Ordnung Europas.
Heute, rund 25 Jahre später, zeigt sich, dass diese Bratislava-Erklärung kaum an Aktualität eingebüsst hat. Wenn die Diakonie Deutschland eine Diakonie-Charta für ein soziales Europa lanciert, so nimmt sie die Kernanliegen der Bratislava-Erklärung auf und erneuert deren Aufruf, sich je auf nationaler und kontinentaler Ebene für individuelle Teilhabe und gerechte soziale Strukturen einzusetzen.
Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund als Mitgliedkirche der KEK hatte die Bratislava-Erklärung mitunterzeichnet und sich zu eigen gemacht – entsprechend können auch die Gehalte der deutschen Diakonie-Charta für die Schweizerische Situation unverändert Gültigkeit beanspruchen.
Hier, in Bratislava, entstand 1994 die Europa-Erklärung der KEK.
Urbane Diakonie
Einer der Forschungsschwerpunkte der Dozentur für Diakoniewissenschaft der Universität Bern ist die Diakonie als helfendes Handeln, wie sie sich kontextuell eingebunden in den Sozialraum Urbanität von Quartier und Stadtteil darstellt.