Ein Kompetenzzentrum im Dienst von benachteiligten Menschen

Ein Kompetenzzentrum im Dienst von benachteiligten Menschen

In Sitten hat das Haus der Diakonie und der Solidarität offiziell seine Türen geöffnet. Das ökumenische, von fondia geförderte Projekt bietet benachteiligten Menschen soziale, juristische und gesundheitliche Unterstützung.

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Ein Kompetenzzentrum im Dienst von benachteiligten Menschen

In Sitten hat das Haus der Diakonie und der Solidarität offiziell seine Türen geöffnet. Das ökumenische, von fondia geförderte Projekt bietet benachteiligten Menschen soziale, juristische und gesundheitliche Unterstützung.

Er hat nur Augen für den Reigen der Teller, der vor ihm vorüberzieht. Ist einmal die Suppenschale leer, folgt das Huhn auf Reis gebettet. Genüsslich schaut Javier zu, bevor er es wagt, mit der Gabel zuzustechen. Rund um ihn herum sprudelt es nur so von Aktivität. Von der Durchreiche aus bis zu den Tischen servieren Freiwillige, mit grünen Schürzen und Hygiene-Masken eilen sie eifrig hin und her.

Es ist Mittag an der Rue de Lausanne 69 in Sitten im Café-Restaurant des neuen Hauses der Diakonie und der Solidarität im Wallis. Fünfzehn Personen sitzen an den Tischen und sollen satt werden. In kaum einer Dreiviertelstunde ist ein zweiter Service fällig. Im verglasten, von Licht durchfluteten Saal werden Gelächter und Schweigen vom Rhythmus des klappernden Bestecks begleitet. Javier zieht seinen Pullover aus und beginnt ein Gespräch mit Steve und Isabelle, die in einigem Abstand neben ihm sitzen.

Eigentlich hätte das Haus schon im März eröffnet werden sollen, doch die Pandemie wollte es anders. Insgesamt wurden 175 Personen von der Krise mit voller Wucht getroffen. Der Aufschub hat jedoch nicht alles in Frage gestellt. Nothilfe in Form von Lebensmittelgutscheinen und finanzieller Unterstützung half 56 Haushalten mit 75000 Franken. 10000 Franken konnten für Hygieneartikel zur Verfügung gestellt werden. Dank der Initiative des ökumenischen Vereins Accueil Hôtel-Dieu und der Unterstützung der Glückskette wurden 2800 Mahlzeiten zum Mitnehmen bereitgestellt oder nach Hause geliefert.

Sozialhilfe und Beratung

Mit der offiziellen Eröffnung des Hauses der Diakonie und der Solidarität am 21. Oktober entstand unter einem einzigen Dach ein Kompetenzzentrum im Dienst von benachteiligten Personen. Das ökumenische Projekt wird von der Evangelisch-reformierten Kirche des Wallis ERKW und der Diözese von Sitten getragen und zählt auch den Verein Accueil Hôtel-Dieu und Saint-Vincent-de-Paul zu seinen Mitgliedern.

Mit einem Café-Restaurant und einer Wohnung im ersten Stock mit Büros und Räumlichkeiten für Sitzungen und Beratungsgespräche soll der Ort Menschen dienen. Das Angebot umfasst Sozialhilfe, Gesundheits- und juristische Beratung. Von Montag bis Freitag findet man hier ein offenes Ohr, Begleitung, Vermittlung an hilfreiche Stellen, Austauschgruppen und Workshops. Dank der Unterstützung durch Freiwillige setzt sich das Haus für die soziale Wiedereingliederung von Rentner*innen, IV-Bezüger*innen, Migrant*innen, Student*innen und psychisch verletzlichen Menschen ein. Der Gesundheitsbereich bietet Zugang zur Grundversorgung für die Bedürftigsten mit einer medizinischen Erstuntersuchung und der Weitervermittlung innerhalb des Gesundheitssystems. Der juristische Bereich schliesslich wird durch das Walliser Netzwerk für solidarische Rechtsberatung abgedeckt. Rund 20 Anwält*innen, Jurist*innen und Rechtsstudent*innen stellen auf diese Weise ihre Kompetenzen in den Dienst von Menschen in schwierigen Lebenslagen.

Netzwerkarbeit

Als ein Ort der Synergien und der Zusammenarbeit zwischen kirchlichen Akteuren schafft das Haus keine Konkurrenz, sondern sicht sich als « eine Ergänzung zu dem, was offizielle Stellen bereits anbieten, was uns sowohl Legitimität wie Anerkennung verschafft. Hier erlebt man eine Willkommenskultur, wie sie in offiziellen Strukturen nicht möglich ist, da letztere ja nicht die gleiche Mission verfolgen» erklärt Joëlle Carron, bischöfliche Delegierte für Diakonie und Leiterin des Hauses, die schon bald von einem reformierten Seelsorger Unterstützung erhalten soll.

«Es ist eine Art Pendant zum Centre social protestant CSP, das in anderen Kantonen der Romandie angesiedelt ist. Im Unterschied zu uns lösen sich die CSP-Zentren jedoch immer weiter von der Kirche als Institution ab», erklärt Synodalrat Mario Giacomino, Exekutivmitglied der Walliser Reformierten und Vorstandsmitglied des Hauses. «Es ist ein Ort der Gemeinschaft, an dem man Orientierungshilfen erhält und seine Identität neu finden kann, dank eines Klimas des Vertrauens und des Wohlwollens, das hier gepflegt wird», meint Joëlle Carron. Es soll eine ganzheitliche Betreuung sein, also auch eine spirituelle, denn «wir sind seelsorgerische und nicht soziale Akteure», so die bischöfliche Delegierte. «Unsere Rolle als Kirche besteht darin, zuzuhören und auf die echten Bedürfnisse der verletzlichsten Menschen einzugehen. Von der Kirche ist diese Rolle zum Staat übergegangen und heute wird sie teilweise wieder uns zugewiesen. In diesem Haus wird Kirche anders gelebt», fügt Seelsorger Mario Giacomino noch hinzu.

Die Suche nach dem anderen

«Ich habe einen Flyer gefunden und so bin ich hierhergekommen» erklärt Javier, der zum ersten Mal hier eine Mahlzeit geniesst. Vor knapp einem Monat war der junge Spanier noch in seinem Heimatland. Heute ist er mal auf dem Campingplatz, mal in Notschlafstellen zuhause und tagsüber sucht er Arbeit, was auch der Grund ist, weshalb er sein Land verlassen hat. «Die Stimmung ist angenehm und ich fühle mich aufgenommen». An seiner Seite hat Steve seine Mahlzeit beendet und pflichtet ihm bei: «Ich esse schon um die zwanzig Jahre im Accueil Hôtel-Dieu. So bin ich nicht allein und treffe alte Bekannte». Steve bezieht Invalidenrente und leidet unter psychischen Störungen. Hier lässt sich die Krankheit etwas vergessen und es wird Raum geschaffen für Trost. Isabelle, die ihm gegenüber sitzt, lebt in einem Heim. «Hier finde ich Kontakte und den Austausch, die mir sonst fehlen». Sie nimmt den letzten Bissen ihres „éclair au chocolat“, trinkt den noch dampfend heissen Kaffee aus und steht auf. Herumhängen will sie auf keinen Fall, denn heute Nachmittag sind im Heim wieder Workshops angesagt.

Am Nebentisch sitzen Rentner*innen, Angestellte des Strassenamts oder Taxifahrer*innen, die “VIPs”, wie sie sich selber scherzhaft nennen. Sie fühlen sich hier wohl, doch der finanzielle Aspekt spielt ebenfalls eine Rolle. Hier kostet ein Essen fünf Franken für die, welche es sich leisten können. Alle anderen bezahlen, was sie entbehren können. «Wenn man schon über 50 ist und plötzlich keine Arbeit mehr hat, ist es halt nicht immer leicht. Und ich kann nicht umhin mich zu fragen, was die heutige Jugend einmal erwartet», meint Giancarlo. An seinem Tisch ist man sich einig. Doch die Last des täglichen Lebens schafft es zum Glück nicht, den Humor zum Verstummen zu bringen.

Ein Vorgeschmack aufs Glück

Das Haus bringt Menschen zusammen und ist gleichzeitig ein Nährboden für Projekte. So wurde jüngst eine Crêperie eröffnet. «Ich brauche dann Brotaufstrich. Wie lange ist der wohl haltbar? Apfelsaft? Ja, aber mit Kohlensäure». Hinter der Bar kümmert sich Josette wachsamen Auges um die Vorräte, mit Kugelschreiber und einem Prospekt bewaffnet. Schon bald wird sie die Leitung der Crêperie übernehmen. «Die Leute sind immer glücklich, wenn sie ein Crêpe bekommen». Das Projekt soll Gehaltsempfänger anstellen, um so die Wiedereingliederung und die Aussenwirkung des Hauses zu fördern. Josette ist IV-Bezügerin. Sie findet es schön, dass sie hier andern Menschen ihre Hilfe anbieten kann. Doch sie bleibt lieber im Hintergrund, die Menge ist nicht so ihr Ding. «Ich möchte Menschen helfen, aus der Talsohle heraus zu kommen, so wie ich das vor ein paar Jahren mit solchen Projekten auch gerne erlebt habe», fügt sie noch hinzu. Allmählich leert sich der Raum. Das Glöcklein bimmelt. Es ist 12.45 Uhr. Die Tische werden geputzt und schon scharen sich neue Gesichter darum herum. Der zweite Service kann beginnen.

 

 

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