Neues zur Rolle der reformierten Kirchen punkto Heim- und Verdingkinder
Eine düstere Praxis des 19. und 20. Jahrhunderts wird von einem neuen Buch beleuchtet: Die Fremdplatzierung von Kindern armer oder sogenannt «unsittlicher» Familien als Verdingkinder in Privathaushalten oder in Anstalten. Wissenschaftler geben darin erste Hinweise, inwiefern reformierte Akteure und Vereine am unmenschlichen Umgang mit armen Familien beteiligt waren.
Wie soll sich die Gesellschaft gegenüber Familien verhalten, die zu wenig Geld verdienen, um für sich zu sorgen? Was soll mit Kindern geschehen, die verwahrlost sind? Ist das Sache der Familie oder des Staates? Was zählt mehr: Das Wohl der Individuen oder die Homogenität der Gesellschaft? Oder die Finanzen von Gemeinden und Kantonen?
Diese Fragen stellen sich die Schweizerinnen und Schweizer immer wieder von Neuem. Sie zeigen ein Spannungsverhältnis auf, mit dem je nach Blickwinkel, Zeit, politischer Einstellung und pädagogischem Forschungsstand verschieden umgegangen wird.
Im 19. und anfangs 20. Jahrhundert war der Politik und der Kirche das Gemeinwesen wichtiger als die Bedürfnisse des Individuums. «Die Rolle des Kindes war damals eine völlig andere als heute», erklärt Pfr. Dr. Simon Hofstetter, der an der Universität Bern als Dozent für Diakoniewissenschaft arbeitet und beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund verantwortlich ist für das neue Buch «Heim- und Verdingkinder», das soeben im TVZ Verlag erschienen ist.
«Früher waren Kinder junge Erwachsene. Heute betrachten wird die Kindheit als eine besonders schutzbedürftige Phase des Menschen. Zudem wurde das Kollektiv höher bewertet als das Wohl des Individuums. Eine problematische Sicht aus heutiger Perspektive.»
Pfr. Dr. Simon Hofstetter
Mitautor
Hofstetter spielt darauf an, dass Armut damals als Bedrohung für die Gesellschaft galt, wie Historikerin Loretta Seglias im Buch schreibt. Bedroht fühlten sich einerseits die Heimatgemeinden der sogenannt «Armengenössigen», die sich um deren Überleben kümmern mussten. Andererseits sahen die Meinungsmacher der Gesellschaft christliche Werte wie Gottesfurcht, Rechtschaffenheit, Fleiss und Arbeitsamkeit bedroht von einem Lebensstil, der nicht der Norm entsprach oder wegen Arbeitslosigkeit und einer grossen Zahl Kinder zusammenbrach.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden deshalb mehrere hunderttausend Kinder, schätzungsweise bis zu fünf Prozent aller Kinder, fremdplatziert. Als Verdingkinder in Pflegefamilien und in Heimen und sollten sie durch viel Arbeit zu rechtschaffenen Bürgern erzogen werden, sowie die Kosten, die sie verursachten durch ihr Bedürfnis nach Nahrung und einem Dach über den Kopf, abgegolten werden. Unter den Heimbetreiberinnen und Betreibern sowie unter Pflegefamilien fanden sich viele reformierte Würdenträger, die teilweise mit grösster Härte Kinder arbeiten liessen, sie schlugen und als Menschen zweiter Klasse behandelten. Die Heime und Familien handelten mit dem Einverständnis der Gemeinden, die froh waren, wenn sie die hungernden und zum Teil verwahrlosten Kinder möglichst billig unterbringen konnten.
Folge der Reformation
Wie kamen gewisse kirchliche Vertreter zu dieser Härte? Hofstetter erklärt dies historisch: «Mit der Reformation veränderte sich der Blick auf die Armut. Es wurde unterschieden zwischen würdiger und unwürdiger, zwischen selbstverschuldeter und schicksalhafter Armut.» Erstere galt als Mangel an Fleiss, zweitere als Folge von Krankheit oder anderen natürlichen Einflüssen. Wer nicht arbeiten wollte oder trank oder sich prostituierte, der wurde als Gottes Gnade unwürdig betrachtet. Denn wenn gemäss reformatorischer Vorstellung Gott schon jeden Menschen gnädig annahm, ohne dass dieser etwas dafür leistete, so musste sich der Mensch Gottes würdig zeigen, indem er rechtschaffen lebte und etwas für die Gemeinschaft tat.
Vor der Reformation, erfüllten Arme, von denen es in gewissen Städten etwa so viele gab wie andere Einwohner, eine gesellschaftliche Funktion, so Hofstetter. «Im 15. Jahrhundert gab es ein riesiges Bettelwesen. Die Bürger mussten ihrem Glauben zufolge wohltätig sein, um sich Gottes Gnade zu verdienen. Dafür dienten ihnen die Armen, denen sie Almosen geben konnten.» Weil der Betteltourismus und die riesige Zahl Herumlungernder insbesondere in den Städten ein Problem war, spielten sich Politik und Reformation in die Hände. Die Bettler mussten in ihre Heimatgemeinden zurück und sie wurden von den Bürgern nicht mehr unterstützt. Fortan wurde die Armut pädagogisch (durch Familienzerschlagung und Erziehung) bekämpft, die Mittel rationalisiert (es bekamen alle Armen gleich viel) und bürokratisiert (es gab Gesetze).
Der christliche Glaube hatte also grossen Einfluss auf den Umgang mit Kindern verarmter Familien. Somit tragen die Kirchen Mitverantwortung für körperliche und seelische Misshandlungen. Das zeigen die Berichte von Loretta Seglias und dem Historiker Ernst Guggisberg im Buch. Worin genau die Verantwortung besteht und wer in welchem Mass wie handelte, untersuchen die Fachleute mit Unterstützung der Kirchen weiter. «Wir wollen wissen, wofür genau wir uns entschuldigen und welche Konsequenzen wir ziehen müssen», sagt Hofstetter. «Mit diesem Buch ist ein Anfang gemacht.»
Simon Hofstetter, Esther Gaillard (Hrsg.)
Heim- und Verdingkinder.
Die Rolle der reformierten Kirche
im 19. und 20. Jahrhundert
TVZ-Verlag Zürich 2017
ISBN: 978-3-290-17895-6