“Hinter den Fassaden der Wohlstandsgesellschaft”

“Hinter den Fassaden der Wohlstandsgesellschaft”

Eine Online-Expertisetagung der Konferenz Diakonie Schweiz brachte am 11. September über 40 Teilnehmende aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und Frankreich zusammen. An der Tagung stand der interprofessionelle Austausch und die Sensibilisierung über neue bzw. alternative Formen von Bedürftigkeit im Zentrum, die sowohl materielle, als auch physische, psychische und spirituelle Aspekte betreffen.

Armut, verstanden als materielle Not, gilt als zentraler Faktor, der die betroffenen Menschen an der gesellschaftlichen Teilhabe hindert. Gleichzeitig steht die materielle Not oftmals auch am Ursprung von weiteren beeinträchtigenden Faktoren der Lebensqualität wie etwa dem sozialen Ausschluss oder gesundheitlichen Problemen.

Diesem Fokus entsprechend hat die kirchliche Diakonie zahlreiche Massnahmen entwickelt, um armutsbetroffene Menschen zu unterstützen und ihnen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

In den letzten Jahren – nicht zuletzt im Nachgang zur Corona-Pandemie – rückte die zunehmende Zahl von Menschen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, die unter psychischen Beschwerden leiden.

Damit werden Situationen von Bedürftigkeit fokussiert, die nicht zwingend mit materieller Not gekoppelt sind und die darauf aufmerksam machen, dass unter uns sozusagen «hinter den Fassaden der Wohlstandsgesellschaft» weitere Notlagen etwa psychischer, sozialer und spiritueller Art bestehen.

Es ist anzunehmen, dass viele Akteurinnen und Akteure – sowohl die Politik als auch das Gesundheitswesen und die kirchliche Diakonie – nur unzureichend mit solchen weiteren Notlagen umzugehen wissen.

Eine Expertisetagung der Diakonie Schweiz richtet ihr Augenmerk auf solche weiteren Notlagen, die «hinter den Fassaden der Wohlstandsgesellschaft» existieren. Das Ziel war es in erster Linie, die unterschiedlichen Phänomene weiterer Notlagen festzuhalten und in ihren Entstehungsweisen als auch in ihren Auswirkungen zu verstehen. In zweiter Linie ging es darum, in kirchlich-diakonischer Perspektive zu fragen, welche Ansatzpunkte für eine diakonische Beschäftigung mit diesen weiteren Notlagen bestehen.

Verschiedene thematische Zugänge näherten sich dem Thema aus unterschiedlicher Perspektive. Ellen Eidt, stellvertretende Geschäftsführerin der milaa gGmbH des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf sprach über die Grundlagen der Armutsforschung und Armutsbekämpfung aus diakonischer Sicht. Dr. Noemi Seewer von der Universität Bern thematisierte Erfahrungen zur Tragfähigkeit sozialer Netze. Prof. Volker Schulte von der Fachhochschule Nordwestschweiz sprach zu Erfahrungen aus dem betrieblichen Gesundheitsmanagement. Martin Werlen von der Probstei St. Gerold sprach schliesslich zu Erfahrungen zum Umgang mit spirituellen Fragen.

In einer moderierten Paneldiskussion wurden dann die Beiträge zusammengefasst und auf ihre Erträge im Hinblick auf die Themenstellung untersucht.

Um das Thema zu entstigmatisieren, sei das Gespräch über Einsamkeit wichtig, so Noemi Seewer. „Einsamkeit ist menschlich und betrifft alle Menschen. Die Frage ist also, nach Möglichkeiten zu suchen, sich untereinander mehr verbunden zu fühlen.“

Angebote des gemeinsamen Essens seien eine gute Chance, einsame Menschen zusammenzubringen, so Ellen Eidt als praktisches Beispiel aus der Gemeindearbeit.

„Armut wird heute oft romantisiert“, so Martin Werlen. Es tue aber nie gut und sei immer peinlich, auf dem Boden zu liegen. „Indem wir wahrnehmen, wie schwierig es ist, darüber zu sprechen, führt näher an das Problem heran. Es hilft, zur eigenen Armut zu stehen und diese zu entdecken.“ Letztendlich gehe es darum, „mit offenen Augen und aufgeschreckten Ohren durch die Welt zu gehen.“

Auf die Gefahren des selbstreferenziellen Systems, in dem wir leben, machte Volker Schulte aufmerksam. „Man muss aufpassen, dass das nicht Probleme schafft. Man muss rausgehen und an die Basis gehen, um nicht im theoretischen Setting zu bleiben.“

Im Blick auf ein Begegnen auf Augenhöhe angesichts einer Bedürfnishierarchie müsse Gegenseitigkeit gefördert werden, so Tabea Eugster-Schaetzle, Moderatorin des Panels. „Wie kann es gelingen, zwischen den Modi der Beziehungsgestaltung zwischen Gegenseitigkeit und Asymmetrie zu wechseln und Augenhöhe herzustellen?“

Ellen Eidt: „So wenig wie möglich Abhängigkeiten erzeugen, so schnell wie möglich Mittun ermöglichen. Nicht als Bedingung, sondern mit einer Haltung, dass Räume entstehen, wo Menschen sich beteiligen können.“ Dabei dürfe man auch nicht beleidigt sein, wenn auf der anderen Seite Wünsche entstünden.

Es brauche mehr Erfahrung, sich einmal in die Situation zu begeben, wie es sich anfühlt, zum Beispiel arm zu sein, so Volker Schulte: „Um den Resilienzbegriff aufzunehmen: man muss einfach mal selber etwas probieren und nicht alles intellektualisieren.“

Weiter wurde die Frage diskutiert, ob Bedürftige anderen als der Diakonie und Kirche mehr vertrauten.

Martin Werlen wies auf die Gefahr der Notgefässe hin: „Menschen werden in eine Schublade abgeschoben. Kirchgemeinden haben die Chance, diese Schubladen zu öffnen, weil eben alle von Armen bis Reichen zusammen sind.“ Die Chance bestünde, Freude und Leid zu teilen und damit andere Erfahrungsräume zu öffnen.

Volker Schulte betonte die Notwendigkeit, authentisch unterwegs zu sein. „Holt die Kirche noch die Menschen ab, werden sie noch erstgenommen? Da haben vielleicht spezielle Orte wie Klöster und Propsteien eine Chance.“ Aus der Arbeitswelt gesprochen sei die Rolle des Patrons insofern interessant, als sich diese Menschen immer auch um ihre Leute gekümmert hätten. „Gleichzeitig ist der Arbeitsmarkt viel weniger durchlässig, um zum Beispiel Menschen, die nicht so leistungsfähig sind, einzuordnen. Das schiebt diese Menschen in die Einsamkeit“, so Volker Schulte.

Weniger das Vertrauen der Menschen zur Kirche sei bei einem Projekt in Berlin die Frage gewesen, sondern die Menschen hätten in Kirchgemeinden gar nicht soziale Angebote gesucht, die in Deutschland durch die professionalisierte Diakonie organisiert werde, so Ellen Eidt.

Dass die Digitalisierung nicht per se einsam mache, betonte Noemi Seewer. Es komme auf die Nutzung an. Digitale Mittel könnten zum Beispiel für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen hilfreich sein. „Eine Gefahr ist eher die starke passive Nutzung, die anderen Menschen nur zuschaut und eine große Diskrepanz zum eigenen Leben feststellt.“ Letztendlich könnten digitale Mittel im Sinne deren Reichweite aber auch helfen, Menschen niederschwellig zu erreichen, so Noemi Seewer: „Digitale Kontakte ersetzen keine physischen, können aber eine Hilfe sein.“