Schweizer Sozialpolitik “seit einigen Jahren vor grossen Herausforderungen”

Schweizer Sozialpolitik “seit einigen Jahren vor grossen Herausforderungen”

Allein 14 Milliarden mehr Ausgaben für Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit haben im ersten Pandemiejahr das Schweizerische Sozialsystem stark belastet. Erwerbslose, Einelternhaushalte, Ausländer und Personen ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss sind besonders oft von Armut bedroht.

Das sind Erkenntnisse aus dem statistischen Sozialbericht Schweiz, der kürzlich veröffentlicht wurde. Da der Bericht alle vier Jahre erneuert wird, bietet dieser einen ersten Überblick zur Auswirkung der Pandemie auf die Sozialkassen.

Die Schweizer Sozialpolitik stehe seit einigen Jahren vor grossen Herausforderungen, nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels und der sozioökonomischen Entwicklungen, so das Bundesamt für Statistik in einer Mitteilung zum Bericht.

Man denke dabei beispielsweise an die Alterung der Gesellschaft und deren Auswirkungen auf die Finanzierung der Sozialversicherungen oder an die Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung und deren Integration, so das Bundesamt. Dazu kämen die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die die beruflichen Laufbahnen beeinflussten und die Arbeitsbedingungen bestimmter Bevölkerungsgruppen beeinträchtigten.

Im Sog der Corona-Gesundheitskrise sei es unter anderem zu einem starken Rückgang des Bruttoinlandprodukts pro Einwohner sowie einer Erhöhung der Erwerbslosenquote gekommen, so das Bundesamt weiter.

Die Ausgaben für Sozialleistungen machen mit gut 200 Milliarden Franken rund ein Drittel des BIP aus, so die Mitteilung. Mit der Pandemie seien insbesondere die Ausgaben im Bereich der Arbeitslosigkeit (2020: +14,3 Mrd. Fr.) vorübergehend stark angestiegen. Mit Massnahmen wie Kurzarbeitsentschädigung, Erwerbsersatzentschädigungen für Selbstständige oder zusätzliche Taggelder für Arbeitslose hätten die negativen Auswirkungen der Pandemie abgefedert werden können, so die Mitteilung.

Die Transferleistungen des Systems der sozialen Sicherheit spielen auch ausserhalb von Krisenzeiten eine gewichtige Rolle bei der Verhinderung von Armut, so das Bundesamt. Ohne die Transfers wäre fast ein Drittel der Schweizer Bevölkerung einkommensarm. Dieser Wert halbiere sich fast allein durch die Alters- und Hinterlassenenleistungen. Würden alle Sozialtransfers wie Familienzulagen, Invalidenrenten, Verbilligung der Krankenkassenprämien, Sozialhilfe oder Taggelder der Arbeitslosenversicherung hinzugerechnet, betrage die Armutsquote noch 8,7 Prozent.

Besonders oft betroffen sind laut Mitteilung auch hier Erwerbslose, Personen in Einelternhaushalten, mit ausländischer Nationalität sowie ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss. Erwerbsarbeit sei jedoch nicht immer ein Garant für ein existenzsicherndes Einkommen, lebten doch 4,2 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, so das Bundesamt.

Im Abschnitt “Soziale Ausgrenzung Risikogruppen” geht die Studie näher auf die Problemlage in bestimmten Bevölkerungsgruppen ein. Im Jahr 2021 waren demnach 13 220 Personen weniger auf Sozialhilfe angewiesen als 2017 (–4,7%). Durch diesen Rückgang verringerte sich die Sozialhilfequote, also der Anteil aller sozialhilfebeziehenden Personen an der ständigen Wohnbevölkerung, um 3,1%.

Trotz der weitreichenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Wirtschaft, Arbeitsmarkt und soziale Sicherheit haben die Zahl der unterstützten Personen oder das Risiko, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, nicht zugenommen, so das Bundesamt.

Wie der Vergleich der Sozialhilfequote in den verschiedenen soziodemografischen Gruppen im Jahr 2021 zeigt, sind laut Bericht ausländische Staatsangehörige trotz rückläufiger Zahlen noch immer am häufigsten auf Sozialhilfe angewiesen (6,1% gegenüber 3,1% der Gesamtbevölkerung). Anschliessend folgen die Kinder (5,0%) Geschiedenen (4,8%), und die ledigen Personen (3,8%). Die Sozialhilfequote ist zudem in städtischen Gebieten höher und steigt mit zunehmender Gemeindegrösse an.

2021 nahmen Einelternhaushalte mehr als fünfmal häufiger Sozialhilfe in Anspruch als die übrigen Haushalte (20,4%). Danach folgten Haushalte mit zwei nicht verheirateten Erwachsenen und minderjährigen Personen (6,1%) sowie Einpersonenhaushalte (5,4%). Am tiefsten war der Anteil der Sozialhilfebeziehenden bei Ehepaaren mit oder ohne Kinder (1,5% bzw. 0,6%).

Durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 brach das Wirtschaftswachstum laut Studie um 3,8% ein. Gleichzeitig erhöhte sich die Erwerbslosenquote gemäss ILO von 4,4% im Jahr 2019 auf 4,8% im Jahr 2020. Die Zahlen von 2021 weisen auf eine Erholung der Wirtschaft hin, so das Bundesamt: Der Wachstumsindikator befinde sich wieder im positiven Bereich (+4,5%), allerdings bei gestiegener Erwerbslosigkeit (5,1%).

Was die wirtschaftliche Sozialhilfe betrifft, hielten umfangreiche Massnahmen von Bund und Kantonen die Auswirkungen der Pandemie auf die Sozialhilfe in Grenzen, so der Bericht weiter. Die Anzahl der Sozialhilfebeziehenden stieg im Jahr 2020 demnach zwar leicht an, 2021 führten die gute Wirtschaftslage sowie die weiterhin geltenden Massnahmen zur Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie jedoch zu einer Abnahme der Sozialhilfeeintritte und zu sinkenden Beständen.

Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor der Armutsbetroffenheit ist laut Studie die Arbeitsmarktteilnahme der erwachsenen Personen im Haushalt. Die Armutsquote der erwerbstätigen Bevölkerung lag demnach mit 4,2% markant tiefer als die Armutsquote der nicht erwerbstätigen Personen ab 18 Jahren (16,8%).

Obwohl die Integration in den Arbeitsmarkt damit einen wirksamen Schutz vor Armut darstelle, seien 2021 rund 157 000 Erwerbstätige von Einkommensarmut betroffen. Die höchsten Armutsquoten weisen dabei gemäss Studie folgende Gruppen auf : Personen, die nicht das ganze Jahr gearbeitet haben, Selbstständigerwerbende, Personen mit einem befristeten Arbeitsvertrag, Teilzeitangestellte sowie Personen, die in kleinen Betrieben tätig sind.

Nach Wirtschaftszweigen zeigt sich 2021 eine etwas höhere Armutsquote von Erwerbstätigen, die in der Erbringung von sonstigen Dienstleistungen (z. B. Kosmetik- und Coiffeursalons), im Baugewerbe, in Verkehr und Lagerei sowie im Gastgewerbe tätig sind, stellt die Studie fest. In den meisten dieser Branchen fänden sich typischerweis auch besonders viele Tieflohnstellen. Besonders tiefe Armutsquoten würden dagegen in der Branche Finanz- und Versicherungsdienstleistungen sowie in der öffentlichen Verwaltung erzielt (0,3% bzw. 0,8%).

Weiter seien Erwerbstätige häufiger armutsbetroffen, wenn sie keinen nachobligatorischen Schulabschluss vorweisen könnten (12,0%), aus Osteuropa oder einem aussereuropäischen Land stammten (11,6%), alleine oder in einem Einelternhaushalt lebten (7,6% resp. 8,9%) und/oder die einzigen Erwerbstätigen im Haushalt seien (7,2%). Insgesamt lebten 2021 rund 305 000 Armutsbetroffene in Haushalten mit mindestens einer erwerbstätigen Person.