Warum bleiben Menschen obdachlos?

Warum bleiben Menschen obdachlos?

Was sind die Gründe für Obdachlosigkeit und dafür, dass Menschen obdachlos bleiben? Verschiedene Studien nähern sich einem Thema, das bislang in der Schweiz noch wenig beachtet wurde.

Was sind die Gründe für Obdachlosigkeit und dafür, dass Menschen obdachlos bleiben? Verschiedene Studien nähern sich einem Thema, das bislang in der Schweiz noch wenig beachtet wurde.

Schätzungsweise 2200 Menschen sind in der Schweiz von Obdachlosigkeit betroffen und etwa 8000 sind von Wohnungsverlust bedroht, meldete das Bundesamt für Wohnungswesen 2022. Das habe  die Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz» gezeigt, welche die Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz FHNW im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen erarbeitet hat. Die Kantone anerkennen ihre Verantwortung für die Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit, so das Bundesamt.

Wie gehen Kantone, Städte und Gemeinden mit Obdachlosigkeit um? Wie versuchen sie zu verhindern, dass Menschen ihre Wohnung verlieren? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, befragten die Studienautoren und -autorinnen der FHNW laut Mitteilung in einem ersten Schritt Vertreterinnen und Vertreter der Kantone. In einem zweiten Schritt wurde bei den Schweizer Gemeinden eine Online-Umfrage durchgeführt. Mit einer Teilnahme von 22 der 26 Kantone sowie 616 Gemeinden – das entspricht rund 28 Prozent aller Gemeinden der Schweiz – ergebe sich ein breit abgestütztes Bild.

Aufgrund der Befragungen konnte geschätzt werden, dass in der Schweiz gesamthaft 2200 Menschen von Obdachlosigkeit betroffen und weitere 8000 Menschen von Wohnungsverlust bedroht sind. Obdachlosigkeit findet sich vor allem in Grossstädten und grösseren Agglomerationen, während drohender Wohnungsverlust auch in Zentrumsgemeinden in ländlichen Regionen vorkommt, so das Bundesamt. Als Gründe für Obdachlosigkeit seien oft Konsum-, Schulden- sowie Drogenprobleme genannt worden. Auch soziale und migrationsbedingte Ursachen spielten eine Rolle.

Die antwortenden Kantone und Gemeinden anerkennen grundsätzlich die staatliche Verantwortung bei der Bekämpfung und Verhinderung von Obdachlosigkeit, betonte das Bundesamt. Die konkrete Umsetzung sei allerdings unterschiedlich, auch weil Obdachlosigkeit je nach Kanton und Gemeinde verschiedenen Politikbereichen zugeordnet werde. Vielerorts stünden die Massnahmen im Zusammenhang mit der der Sozial- und Nothilfe, was voraussetze, dass die betroffenen Personen bei der Sozialhilfe gemeldet seien. Ein umfassendes Gesamthilfesystem sei auf Kantons- und Gemeindeebene wenig verbreitet.

Das Phänomen Obdachlosigkeit sei in der Schweiz bisher wenig erforscht, so das Bundesamt weiter. Deswegen fehle es an grundlegenden Daten. Die Autorinnen und Autoren der Studie empfehlen deshalb, die Datenlage und das Monitoring zu verbessern, die Obdachlosigkeit in ihren diversen Formen klarer zu erfassen und zu definieren und einen nationalen Orientierungsrahmen zu erarbeiten. Zudem regen die Autorinnen und Autoren die Stärkung der Zusammenarbeit auf allen Ebenen an. Sie empfehlen ebenfalls die Prüfung einer Strategie zur Wohnungsversorgung. Damit könnten obdachlose Menschen einen verbesserten Zugang zu einer dauerhaften Wohnlösung erhalten.

Studie zu Ausmass und Struktur von Obdachlosigkeit in der Schweiz

Ausmass und Struktur von Obdachlosigkeit in der Schweiz empirisch zu bestimmen, war das Ziel der FNHW-Studie unter der Leitung von Jörg Dittmann, Professor im Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung.

Für die Studie wurden 62 Einrichtungen befragt, die sich an Menschen ohne eine Wohnung richten. Damit wurden die Städte Zürich, Genf, Basel, Bern, Lausanne, Luzern, St. Gallen sowie Lugano abgedeckt. Für die Hochrechnung der Ergebnisse auf die Gesamtschweiz wurden zusätzlich Statistiken zu den Notschlafstellen von insgesamt 17 Städten in der Schweiz ausgewertet.

Um das Ausmass der Obdachlosigkeit in den 8 untersuchten Städten zu vervollständigen, wurde ein Teil der Befragungsdaten, d.h. die Personen, die draussen übernachtet haben, mit allen Personen addiert, die in der gleichen Nacht in den Notschlafstellen der jeweiligen Städte übernachteten.

Die höchste Zahl von Obdachlosen wurde laut Studie in Genf ermittelt. Auf 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner ab 18 Jahren waren dort 210 Menschen obdachlos, in Lausanne waren es 150 Menschen. Es folgten mit grösserem Abstand die Städte Bern (58), Basel (46) und Lugano (38). Erst danach rangierte Zürich, die nach Einwohnenden grösste Stadt der Schweiz, mit 29 Obdachlosen pro 100’000. Luzern (11) und St. Gallen (8) wiesen im Städtevergleich die geringsten Zahlen von obdachlosen Personen auf.

Auf eine Besonderheit der Stadt Lugano weist die Studie hin, die kein Hilfeangebot vor Ort besitze. Die Stadtverantwortlichen verwiesen laut Studie auf die Notschlafstelle in der 15 km entfernten Stadt Mendrisio und auf die Gassenküche in der Nachbargemeinde Porza.

11 Prozent der Obdachlosen waren zum Zeitpunkt der Befragung bei der Sozialhilfe gemeldet, es bestehe hohe Skepsis gegenüber der Sozialhilfe bezüglich der Wohnunterstützung, heisst es. Auch eine drei Viertel eine grosse Skepsis gegenüber der Lage auf dem Wohnungsmarkt.

21 Prozent fühlten sich nicht ausreichend medizinisch versorgt, 79 Prozent tun dies aber. Auch wurden die Essensangebote für Armutsbetroffene in allen acht Städten überwiegend positiv bewertet.

26 Prozent der Obdachlosen gaben an, ohne Kontakt zu Freundinnen oder Freunden zu sein, 35 Prozent waren ohne Kontakt zur Familie. Knapp ein Viertel der Betroffenen konnte nicht auf Unterstützung durch Freunde oder Familie zählen, ebenso viele gaben an, stark unterstützt zu werden.

Über 70 Prozent der Betroffenen waren ohne Partnerin oder Partner. Das Risiko für alleinstehende Personen, in die Obdachlosigkeit zu geraten, sei grösser als bei Personen, die in einer Paarbeziehung sind, so die Studie.

Ein Fünftel der Obdachlosen fühlte sich sehr stark von der Gesellschaft ausgeschlossen. Etwa der gleiche Anteil gab an, dass sie sich gesellschaftlich gar nicht ausgeschlossen fühlten. 42 Prozent nahmen im öffentlichen Raum Diskriminierungen wahr. Für 58 Prozent war dies dagegen nicht der Fall. In Luzern (50 Prozent der Betroffenen) und Genf (47 Prozent) wurde überdurchschnittlich mehr als in den anderen Städten über Diskriminierungserfahrungen  berichtet. In St. Gallen (20 Prozent), Lugano (23) und Basel (31) fühlte sich weniger als ein Drittel der Antwortenden im öffentlichen Raum abschätzig behandelt.

Mit einem Anteil von 55 Prozent fühlten sich obdachlose Frauen im öffentlichen Raum signifikant häufiger abschätzig behandelt als Männer mit 39 Prozent.

Gefühlte Gründe für die Obdachlosigkeit

231 obdachlose Personen gaben laut Studie Auskunft darüber, warum sie ihre Wohnung oder ihr Zimmer verloren hatten. 42 Prozent nannten finanzielle Probleme als einen der Hauptgründe. 23 Prozent gaben an, ohne Wohnung in die Schweiz gekommen zu sein, was dazu führte, keine Wohnung zu finden.

Sortiert nach der Anzahl der Nennungen folgten als subjektive Gründe für Obdachlosigkeit: der Verlust der Arbeit einschliesslich Konkurs mit 21 Prozent, die Kündigung des Mietvertrags mit 19 Prozent, Scheidung und Trennung mit 10 Prozent, Konflikte im eigenen Haushalt mit 10 Prozent, psychische oder physische Gesundheitsprobleme mit sechs Prozent, Suchtprobleme mit sechs Prozent und häusliche Gewalt mit 4 Prozent.

Warum bleibt jemand obdachlos?

Zu den Leistungen der Sozialhilfe gehöre, eine geeignete Unterkunft zur Verfügung gestellt zu bekommen, so die Heilsarmee in einer Untersuchung zur Frage, warum jemand obdachlos bleibe. Über 90 Prozent derjenigen, die draussen übernachten, sind nicht bei der Sozialhilfe gemeldet. Dies könne viele Gründe haben, so die Heilsarmee. So könnte die Anspruchsberechtigung fehlen, wenn keine gültigen Aufenthaltspapiere vorhanden seien. Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden, Scham, vom Staat Geld zu erhalten, oder die Angst, sich zu verschulden, gehöre dazu.

Auch gestalte sich die Suche nach einer Wohnung selbst für Schweizerinnen und Schweizer, die aus dem Ausland zurückkehren, als schwierig, wenn finanzielle Schwierigkeiten gross seien, Erwerbsarbeit fehle und wenige Möglichkeiten bestünden, bei Verwandten oder Freundinnen und Freunden unterzukommen.

Je nach Region unterscheiden sich laut Beitrag die Notunterkünfte hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen wie dem Preis für die Übernachtung oder dem bürokratischen Aufwand, wie auch hinsichtlich ihrer Auslastung.

Der aktuelle Forschungsstand weise weiter auf die Wechselwirkungen zwischen Sucht, psychischer Erkrankung und Obdachlosigkeit hin, so der Beitrag der Heilsarmee. Suchtabhängigkeit und psychische Erkrankungen könnten dabei sowohl eine Ursache als auch eine Folge der Obdachlosigkeit darstellen. Die aus der Suchtabhängigkeit hervorgehenden körperlichen und psychischen Probleme könnten eine Aufgabe der Wohnung oder eine Verfestigung der Obdachlosigkeit erklären. Auch sei das Leben auf der Gasse selbst in vielerlei Hinsicht eine physische und psychische Belastung.