Mindestens 140 000 Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz meistern ihr Älterwerden ohne betreuende Familienangehörige, so die Beisheim Stiftung in einer Mitteilung. Entweder, weil sie keine Kinder und keine Partnerin oder keinen Partner hätten oder weil ihre Familienangehörigen die Betreuungsarbeit nicht übernehmen könnten oder wollten.
Jedoch setze die Schweizer Sozial- und Gesundheitspolitik unter dem Motto ambulant vor stationär die unbezahlte Betreuungsarbeit durch die Familie faktisch voraus. Bisher sei kaum erforscht, wie ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige ihre Situation empfänden und wie sie damit umgingen. Deshalb haben acht Schweizer Stiftungen und Organisationen eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben.
Das beauftragte Forschungsteam der Fachhochschule Nordwestschweiz hat laut Studie zwischen August 2021 und März 2022 30 zu Hause lebende, ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige in Basel BS, Lausanne VD, Biel BE, Küssnacht am Rigi SZ sowie Val-de-Travers NE interviewt und begleitet. Allen Interviewten sei die Wahrung der eigenen Autonomie sehr wichtig.
Wer alleine lebt, fühle sich nicht in jedem Fall einsam, so die Studie weiter: Ältere Menschen suchten in sehr unterschiedlichem Masse soziale Einbindung. Deshalb könne auch nicht direkt von der Anzahl oder Art sozialer Kontakte im Alltag auf das Wohlbefinden geschlossen werden.
Längst nicht alle älteren Menschen haben die gleiche Haltung dem Alleinsein gegenüber, so die Studie weiter: Die einen seien gerne alleine, hätten sich daran gewöhnt oder pflegten nur ausgewählte soziale Kontakte, während andere den Wunsch nach mehr sozialen Beziehungen hätten.
Viele dieser Menschen seien noch selbstständig in der Lage, ihre sozialen Kontakte aufrechtzuerhalten und der Einsamkeit vorzubeugen. Abends, an Wochenenden oder zu Ferienzeiten könnten sich dennoch Gefühle der Einsamkeit breitmachen, was die Angst schüre, dass derartige Situationen mit zunehmendem Alter sowie der Abnahme der eigenen Kräfte und Netzwerke ebenfalls zunehmen könnten.
Hingegen könnten ältere Menschen, die weniger soziale Kontakte und Beziehungen hätten, als sie eigentlich möchten, bereits im Alltag dauerhaft Einsamkeit empfinden. Älteren Menschen, die schon immer viel alleine gewesen seien, sei diese Einsamkeit vielleicht eher vertraut, während Menschen, die erst im Alter vereinsamt seien, sich nur sehr schwer daran gewöhnen könnten.
Vor dem Hintergrund dieser Heterogenität könne die Bedeutung sozialer Kontakte und die Bedeutung fehlender betreuender Familienangehöriger nicht verallgemeinert werden, so die Studie. Verschiedene Individuen suchten in sehr unterschiedlichem Masse soziale Einbindung oder sinnstiftende, soziale Aufgaben, um sich wohlzufühlen.
Zentrale Rolle unterstützender Angehöriger
Die meisten Wünsche der Interviewten haben laut Mitteilung mit Betreuung zu tun, denn die zentrale Rolle, die betreuende Familienangehörige übernehmen, fällt weg. Dafür übernehmen Organisationen wie die Spitex oder lokale Angebote und Vereine eine grosse Verantwortung: Sie treten in gewisser Weise an die Stelle betreuender Familienangehöriger, so die Studie weiter.
Derzeit bestehe jedoch im Gegensatz zum Recht auf Pflege oder auf Hilfe kein Recht auf Betreuung, auch wenn ein ausgewiesenes Bedürfnis danach bestehe. Von dieser Lücke seien ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige unter Umständen besonders betroffen.
Wo individuelle – also geistige, soziale, körperliche oder finanzielle – Ressourcen oder Unterstützungsmöglichkeiten fehlten, könnten rasch Probleme auftreten, so die Studie. Das könne zu erheblichen Ungleichheiten unter älteren Menschen führen.
Die Studie zeigt, dass die Haltungen und Angebote der Altersarbeit und -politik den Vorstellungen der befragten älteren Menschen nur teilweise oder gar nicht entsprechen, so die Mitteilung weiter: Ein vielfach sehr breites, nicht immer gut koordiniertes Angebot mache es für ältere Menschen schwierig, sich frühzeitig und umfassend zu informieren.
Ohne Familien entstünden Betreuungslücken an Abenden und Wochenenden, Feiertagen sowie in Ferienzeiten. Älteren Menschen ohne betreuende Familienangehörige fehle oft ein Gegenüber, um sich mit der verbleibenden Lebenszeit und dem Lebensende auseinanderzusetzen.
Fehlende betreuende Familienangehörige könnten zwar nicht ohne Weiteres durch Dritte kompensiert werden, aber ein gut ausgebautes Angebot mit unabhängigen Informations- und Beratungsstellen, einem Case-Management-Ansatz, weitgehender Mitwirkung älterer Menschen und einer vielfältigen Prävention könne hilfreich sein.
Gemeinsam sei allen untersuchten Lebensrealitäten, dass die zentrale Rolle, die betreuende Familienangehörige übernehmen, wegfalle. Diese Rolle umfasse wichtige Aufgaben: Die Wünsche, Bedürfnisse und Ängste der älteren Menschen mit Blick auf die Zukunft zu kennen oder im Gespräch ausfindig zu machen. Aber auch Informationen über vorhandene Angebote, Wohnformen und Rahmenbedingungen müssten gesammelt und an die älteren Menschen herangetragen werden.
Es gelte, vorausschauend zu planen und gegebenenfalls die Koordination eines wachsenden Unterstützungsnetzwerks zu übernehmen. Zudem setzten sich betreuende Familienangehörige für die Wünsche der älteren Menschen ein und setzen im Notfall oder am Lebensende Entscheidungen im Sinne der älteren Menschen um.
Dabei sei es notwendig, immer das Individuum sowie dessen Lebensbedingungen und Vorstellungen eines guten Lebens im Blick zu haben. Nicht zuletzt gelte es, so eine Schlussfolgerung der Studie, ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige als Zielgruppe der Alterspolitik und -arbeit anzuerkennen.
Damit den individuellen Bedürfnissen und Wünschen entsprochen werden könne, sei sicherzustellen, dass ältere Menschen selbstbestimmt und partizipativ mitentscheiden könnten, ob, wann und in welcher Form sie Betreuungsangebote in Anspruch nehmen wollten. Durch ein regelmässiges Reporting könnten Akteurinnen und Akteure der Altersarbeit die Gemeinden dabei unterstützen, die Angebote so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen der älteren Menschen gerecht würden.
Damit im Rahmen der alterspolitischen Strategie «ambulant vor stationär» die Wünsche und Bedürfnisse aller älteren Menschen mit oder ohne Familienangehörige berücksichtigt werden könnten, müsse die Schweiz im ambulanten Bereich mehr unternehmen, so das Fazit der Studie.
Heute werde die Betreuung zu Hause, also ambulant, grösstenteils durch unbezahlte Sorgearbeit von Familienangehörigen geleistet. Diese Ausprägung der Strategie «ambulant vor stationär» könne zu erheblichen Ungleichheiten unter älteren Menschen führen. Die Verwirklichung eines guten Lebens im Alter könne ohne die Unterstützung durch enge Familienangehörige und bei Fehlen anderer sozialer wie finanzieller Ressourcen im Laufe des Fragilisierungsprozesses zunehmend schwierig werden. Gleichwohl gebe es viele ältere Menschen, die auch ohne betreuende Familienangehörige ein gutes Leben führten.