“Wir dürfen trotz weniger Suizide nicht blauäugig sein”

“Wir dürfen trotz weniger Suizide nicht blauäugig sein”

Am 10. September ist Welttag der Suizidprävention. Jeder Mensch, der sich das Leben nimmt, ist einer zu viel. Experte Jörg Weisshaupt spricht über Präventionsmöglichkeiten und die Notwendigkeit der Betreuung von Hinterbliebenen.

Magazin

Suizidprävention: "Wir dürfen trotz weniger Suizide nicht blauäugig sein"

Am 10. September ist Welttag der Suizidprävention. Jeder Mensch, der sich das Leben nimmt, ist einer zu viel. Experte Jörg Weisshaupt spricht über Präventionsmöglichkeiten und die Notwendigkeit der Betreuung von Hinterbliebenen.

Mit rund 1000 Suizidtoten und 15000 Suizidversuchen pro Jahr hat die Schweiz europaweit eine überdurchschnittlich hohe Rate. Nun will auch der Bund eine aktive Rolle bei der Prävention einnehmen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) lässt im Rahmen des Aktionsplans Suizidprävention erstmals schweizweit Daten zu Suizidversuchen auswerten. Damit will das BAG eine bessere Grundlage für die Prävention schaffen.

Ein Experte auf dem Gebiet ist Jörg Weisshaupt aus Zollikon. Er hat sich seit mehr als 20 Jahren der Suizidprävention und vor allem auch der Nachsorge, also der Begleitung von Angehörigen nach einem Suizid, verschrieben.

Wo liegen die Gründe für diese vergleichsweise hohe Zahl an Suiziden in der Schweiz?

Aus den vielen Geschichten, die ich gehört habe, kann ich sagen: Über 80 Prozent der Suizidalen haben an einer psychischen Erkrankung gelitten. Die Frage ist also: Wieso schaffen wir es nicht, sie von dieser letzten Möglichkeit zur Beendigung ihres Leidens ab-zuhalten? Es zeigt sich nämlich, dass viele, die einen Suizidversuch überleben, danach froh sind, dass sie noch leben.

Gibt es auch Auffälligkeiten bei Menschen, die sich das Leben nehmen, ohne dass bei ihnen eine psychische Erkrankung bekannt war?

Oftmals sagen Angehörige, dass der Verstorbene ein Mensch mit perfektionistischen Zügen war. Genau, zuverlässig, leistungsorientiert, dass sind Charakterzüge, die wir als «typisch schweizerisch» charakterisieren und in unserer Gesellschaft erwarten. Mit Blick auf die vielen Möglichkeiten, die der jüngeren Generation heute offenstehen, spreche ich jeweils auch von der «Pflichterfüller-Generation». Die Möglichkeiten werden vielfältiger, aber auch die Erwartungen grösser. Es ist nicht statistisch belegt, aber ich beobachte, dass dies vielen zu schaffen macht.

Auffallend ist, dass sich in der Schweiz dreimal mehr Männer das Leben nehmen. Kann man diesen Umstand erklären?

Es gibt verschiedene Vermutungen. Zum einen wählen Männer öfter Methoden, die eher zum Ziel führen, wie der Griff zur Schusswaffe. Frauen nehmen hingegen häufiger Medikamente ein und können oft gerettet werden. Dazu kommt wohl, dass Männer Probleme zu lange für sich behalten und dann ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. Ausser-dem kann gerade bei jungen Männern eine Depression häufig so verlaufen, dass sie Aussenstehenden verborgen bleibt. Betroffene ziehen sich nicht zurück, sondern wirken sehr aktiv. So kommt es nicht zu einer Intervention. Die Zahlen zu Suizidversuchen zeigen allerdings, dass Frau-en sich deutlich häufiger das Le-ben nehmen wollen: Von 15 000 Versuchen wurden 10 000 von Frauen unternommen.

Seit den 1980er-Jahren hat die Anzahl Suizide in der Schweiz markant abgenommen. Ist dies ein Erfolg der Prävention?

Wir dürfen nicht blauäugig sein. Heute steigt dafür die Zahl von assistierten Suiziden, eine Methode, die es vor zwei Jahrzehnten noch kaum gab. Aber sicherlich haben verschiedene Präventionsmassnahmen Wirkung gezeigt: Dazu gehören bauliche Mittel, aber auch die rückläufige Anzahl Schusswaffen und die Medikamentenrückgabe.

Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf in der Prävention?

Wir sind im Kanton Zürich mit dem Schwerpunktprogramm «Suizidprävention» auf einem guten Weg. Wichtig ist nun vor allem die Sensibilisierung der breiten Bevölkerung. Das Ziel ist, dass jeder merkt: Ich kann etwas tun. Dabei sind drei Schritte zentral: hinschauen, ansprechen und gemeinsames Handeln. Dies kann auch schon ein unverbindliches Gesprächsangebot sein. Ausserdem setzen wir auch verstärkt auf die Schulung von Multiplikatoren wie Lehrern, Sozialarbeitern und HR-Personal in grösseren Unternehmen.

Und wo muss sich die Nachsorge verbessern?

Studien haben gezeigt, dass es rund 4,5 Jahre braucht, bis Hinterbliebene von sich aus Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn man jedoch proaktiv auf diese Menschen zugeht, dauert es nur etwa einen Monat. Wichtig ist also vor allem die Intervention. Dies hat uns veranlasst, mit der Kantonspolizei zusammen ein Pilotprogramm zur zeitnahen Begleitung von Angehörigen aufzugleisen. Inhaltlich beschäftigt diese meistens die Schuldfrage und ausgeprägte Scham sehr stark. Daher sind geführte Selbsthilfegruppen hilfreich. Betroffene können sich gegenseitig austauschen und erfahren so, dass auch andere diesen komplizierten und langen Trauerprozess erleben.

Sie haben mitgeholfen, den Anlass Darkness into Light in Zürich zu organisieren. Was kann damit erreicht werden?

Ich bin beeindruckt, dass weltweit eine Viertelmillion Menschen dazu bewegt wird, sich über psychische Gesundheit und Suizid auszutauschen. In einem solchen Rahmen kann eine gesellschaftliche Veränderung beginnen. Es freut mich sehr, dass wir den An-lass dank den Mitgliedern des Vereins Zurich Inneoin GAA nach Zürich holen konnten.

Sie arbeiten in zahlreichen Projekten im Bereich der Suizidnachsorge. Was treibt Sie in Ihrer Arbeit an?

Die Notwendigkeit. Die Anzahl Suizide nimmt zwar ab, aber besonders die Nachsorge ist noch zu selten ein Thema. Es ist wichtig, dass diese konfessionell unabhängig angeboten wird, damit auch Menschen erreicht werden, die nicht einer Kirche angehören.

(Ende des Interviews)

Ohne berufsbegleitende spezifische Weiterbildung ist man als Sozialdiakonin oder Pfarrperson ungenügend auf Menschen in einer lebensbedrohlichen Krise vorbereitet, um sie adäquat fachlich zu begleiten, ergänzt Jörg Weisshaupt gegenüber diakonie.ch. Auch werde Suizidologie weder an den theologischen Fakultäten noch auf Fachhochschulniveau oder auf dem Niveau einer Höheren Fachhochschule für angehende Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone gelehrt.

Aktuell würden die verschiedensten Berufsgruppen und Multiplikatoren im Kanton Zürich im Rahmen des Schwerpunktprogramms Suizidprävention geschult. Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone würden erreicht, wenn sie in der Jugendarbeit tätig seien, so Weisshaupt.

Wolle Kirche heute noch eine Rolle in der Gesellschaft spielen, müssten die Mitarbeitenden ermächtigt werden, hinzuschauen, den Verdacht der Suizidalität explizit anzusprechen und konkrete Begleitung anzubieten und schliesslich professionelle Hilfe zu organisieren.

 

Interview der Zürichsee-Zeitung vom 10. Mai 2019. Das Interview führte Annina Just. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung.

Link zum Interview

 

m
Suizidprävention

Material