“Mehr Obdachlose in der Innenstadt” titelte kürzlich der “Bund”. Wieso in letzter Zeit mehr Bettler vor den Geschäftseingängen schlafen, interessierte die Tageszeitung. Eine Situation wie momentan habe es noch nie gegeben, wird die Interventionsgruppe Pinto zitiert, die im Auftrag der Stadt Bern Menschen auf der Strasse hilft. Das Phänomen Obdachlosigkeit sei in Bern nun sichtbar geworden.
Warum es so viele seien, lasse sich nicht genau sagen, so der im Bund zitierte Gruppenleiter. Es könnten Nachwehen der Pandemie sein. Viele hätten den Job verloren und täten sich schwer, wieder eine Arbeit zu finden. Auch lebten viele psychisch Erkrankte auf der Strasse. Sie litten verstärkt wegen der Unsicherheit in der Welt.
Kirchliche Initiative in Basel
Auch in Basel halten sich seit Sommer 2020 vermehrt Obdachlose auf. Während die Hilfe für obdachlose Personen mit offizieller einwohnerdienstlicher Anmeldung in Basel-Stadt schon relativ gut ausgebaut ist, ist die Hilfe für Obdachlose ohne gesetzlichen Wohnsitz sehr begrenzt, sagt Mirjam Baumann, Sozialarbeiterin im Sozialdienst der Kirchgemeinde Kleinbasel.
Auf Sozialleistungen besteh in der Regel kein Anspruch, sie würden aus Angst vor fremdenpolizeilichen Massnahmen nicht beantragt, das Recht auf Nothilfe ist zeitlich bis zur nächstmöglichen Ausreise begrenzt.
Da Armutsmigrantinnen und Armutsmigranten in ihren Herkunftsländern meist keine rückkehrwürdigen Perspektiven sehen, verbleiben sie in der Schweiz, teils unter äusserst prekären Bedingungen und vor allem ohne Obdach. Selbst wenn diese Menschen, die mit der Hoffnung, eine Arbeit zu finden in die Schweiz gekommen sind, eine Aussicht auf eine Anstellung hätten, ist der Einstieg in die Arbeitswelt mangels einer sicheren Basis, wo sie ihre Sachen deponieren, sich ausschlafen, sich selbst und ihre Kleider waschen können, meist kaum möglich, so Mirjam Baumann. Häufig suchen sie deshalb Hilfe bei kirchlichen Sozialdiensten, Pfarrpersonen und anderen kirchlichen Stellen. Diese stehen dann im Spannungsfeld von konkreten Notsituationen auf der einen und fehlenden Unterstützungsmöglichkeiten auf der anderen Seite. Zwar bestehe gemeinsam mit der katholischen Kirche, Caritas und Heilsarmee ein gut funktionierendes Abkommen für kurzzeitige Passantenhilfe, aufgrund der zeitlichen Befristung von einer bis drei Nächten am Wochenende vermöge diese jedoch nur in sehr begrenztem Rahmen Hilfe zu leisten.
Deshalb hat sich die Evangelisch-reformierte Kirche Basel-Stadt im Rahmen eines beim schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte SKMR in Auftrag gegebenen Gutachtens vertieft mit dem in Artikel 12 der Bundesverfassung verankerten Recht auf Hilfe in Notlagen für Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz auseinandergesetzt. «Auf der Basis dieses Gutachtens suchten wir das Gespräch mit dem zuständigen Regierungsrat und Behörden. Dabei wurde deutlich, dass eine Anpassung der staatlichen Nothilfepraxis für Personen ohne Wohnsitz vorerst nicht zu erwarten ist, weshalb die Kirchen nun in Betracht ziehen, selbst aktiv zu werden», so Mirjam Baumann.
Eine Projektgruppe, vorerst zusammengesetzt aus Vertreterinnen und Vertretern der reformierten Kirche Basel-Stadt und Baselland, dem HEKS und der Fachhochschule Nordwestschweiz prüft nun Möglichkeiten, obdachlose Menschen ohne Wohnsitz in Basel, die länger als eine Nacht anwesend sind, zu unterstützen.
Noch bestehe wenig Vernetzung mit kirchlich-diakonischen Initiativen in anderen Städten und Regionen. Ein bislang loser Austausch innerhalb der Nordwestschweiz zeige, dass in nicht städtischen Gebieten die Hilfe, selbst für einheimische Obdachlose, deutlich weniger weit ausgebaut sei, was dazu führe, dass Menschen aus diesen Gebieten auch nach Basel-Stadt kämen.
Gleichzeitig sei in Zürich zur Zeit eine neue Gruppe Unterschlupf suchender Menschen entstanden: Geflüchtete, die nicht die Schweiz, sondern Deutschland und nordeuropäische Länder, wo bereits Familienangehörige leben, als Asylland anstreben. Auf Durchreise bräuchten sie kurzzeitig eine Unterkunft, könnten sich die Angebote der Hotellerie jedoch nicht leisten und nächtigten deshalb am Zürcher Hauptbahnhof. Sowohl dieses Beispiel wie auch die Situation in Basel machten deutlich, dass in einer europäisierten und globalisierten Schweiz zunehmend auch Menschen ohne ausländerrechtlichen Status auf Obdach angewiesen seien.
Studie zu Ausmass und Struktur von Obdachlosigkeit in der Schweiz
Ausmass und Struktur von Obdachlosigkeit in der Schweiz empirisch zu bestimmen, war das Ziel einer Studie der Fachhochschule für Soziale Arbeit FHNW unter der Leitung von Jörg Dittmann, Professor im Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung.
Für die Studie wurden 62 Einrichtungen befragt, die sich an Menschen ohne eine Wohnung richten. Damit wurden die Städte Zürich, Genf, Basel, Bern, Lausanne, Luzern, St. Gallen sowie Lugano abgedeckt. Für die Hochrechnung der Ergebnisse auf die Gesamtschweiz wurden zusätzlich Statistiken zu den Notschlafstellen von insgesamt 17 Städten in der Schweiz ausgewertet.
Um das Ausmass der Obdachlosigkeit in den 8 untersuchten Städten zu vervollständigen, wurde ein Teil der Befragungsdaten, d.h. die Personen, die draussen übernachtet haben, mit allen Personen addiert, die in der gleichen Nacht in den Notschlafstellen der jeweiligen Städte übernachteten.
Die höchste Zahl von Obdachlosen wurde laut Studie in Genf ermittelt. Auf 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner ab 18 Jahren waren dort 210 Menschen obdachlos, in Lausanne waren es 150 Menschen. Es folgten mit grösserem Abstand die Städte Bern (58), Basel (46) und Lugano (38). Erst danach rangierte Zürich, die nach Einwohnenden grösste Stadt der Schweiz, mit 29 Obdachlosen pro 100’000. Luzern (11) und St. Gallen (8) wiesen im Städtevergleich die geringsten Zahlen von obdachlosen Personen auf.
Auf eine Besonderheit der Stadt Lugano weist die Studie hin, die kein Hilfeangebot vor Ort besitze. Die Stadtverantwortlichen verwiesen laut Studie auf die Notschlafstelle in der 15 km entfernten Stadt Mendrisio und auf die Gassenküche in der Nachbargemeinde Porza.
31% der Obdachlosen wussten nicht, wo sie in einer Woche schlafen würden
Für die Mehrheit der Befragten änderte sich wenig an ihrer Wohnsituation, so die Studie. 63 Prozent der antwortenden Personen gaben an, dass sie in der kommenden Nacht in einer Notschlafstelle und 33 Prozent berichteten, dass sie draussen übernachten würden. 5 Prozent gingen davon aus, dass sie weder draussen noch in einer Notschlafstelle übernachten würden. 14 Prozent aller damals Obdachlosen wussten bereits für den nächsten Tag nicht, wo sie übernachten würden. Dieser Anteil erhöhte sich laut Studie auf 31 Prozent, wenn danach gefragt wurde, wo sie in der nächsten Woche schlafen werden.
83% hatten Erfahrungen mit Wohnungs- oder Obdachlosigkeit
Alle 1’182 Personen, die sich in den Einrichtungen aufhielten, wurden danach gefragt, ob – und wenn ja – welche Erfahrungen sie in ihrem Leben bereits mit verschiedenen Formen von Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und unsicherem Wohnen gemacht haben. 68 Prozent der Befragten hatten schon einmal draussen und 65 Prozent in einer Notschlafstelle geschlafen. Knapp die Hälfte war auch bereits einmal vorübergehend bei Bekannten untergekommen. Insgesamt hatten 83 Prozent aller Strassenobdachlosen oder Nutzenden der Notschlafstellen hatten Erfahrungen mit der jeweils anderen Form von Obdachlosigkeit oder des unsicheren Wohnens gemacht, so die Studie.
Soziodemographisches Profil
83 Prozent der Obdachlosen waren Männer, der Alterdsdurchschnitt lag bei 40 Jahren, nur 4 Prozent waren 65 und älter. Vier Fünftel der Obdachlosen besassen nicht die schweizerische Nationalität. 61 Prozent der befragten Obdachlosen gaben an, keinen offiziellen Aufenthaltsstatus zu haben.
16 Prozent hatten keinen Schulabschluss, wobei auch 11 Prozent berichteten, eine Hochschule abgeschlossen zu haben. Insgesamt sei der Bildungsgrad von Obdachlosen im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung geringer, so die Studie. Drei Viertel der Befragten war ohne bezahlte Arbeit, wobei auch sechs Prozent angaben, einer regulären Erwerbsarbeit in Voll- oder Teilzeit nachzugehen.
Wie Obdachlose sich fühlen
11 Prozent der Obdachlosen waren zum Zeitpunkt der Befragung bei der Sozialhilfe gemeldet, es bestehe hohe Skepsis gegenüber der Sozialhilfe bezüglich der Wohnunterstützung, heisst es. Auch eine drei Viertel eine grosse Skepsis gegenüber der Lage auf dem Wohnungsmarkt.
21 Prozent fühlten sich nicht ausreichend medizinisch versorgt, 79 Prozent tun dies aber. Auch wurden die Essensangebote für Armutsbetroffene in allen acht Städten überwiegend positiv bewertet.
26 Prozent der Obdachlosen gaben an, ohne Kontakt zu Freundinnen oder Freunden zu sein, 35 Prozent waren ohne Kontakt zur Familie. Knapp ein Viertel der Betroffenen konnte nicht auf Unterstützung durch Freunde oder Familie zählen, ebenso viele gaben an, stark unterstützt zu werden.
Über 70 Prozent der Betroffenen waren ohne Partnerin oder Partner. Das Risiko für alleinstehende Personen, in die Obdachlosigkeit zu geraten, sei grösser als bei Personen, die in einer Paarbeziehung sind, so die Studie.
Ein Fünftel der Obdachlosen fühlte sich sehr stark von der Gesellschaft ausgeschlossen. Etwa der gleiche Anteil gab an, dass sie sich gesellschaftlich gar nicht ausgeschlossen fühlten. 42 Prozent nahmen im öffentlichen Raum Diskriminierungen wahr. Für 58 Prozent war dies dagegen nicht der Fall. In Luzern (50 Prozent der Betroffenen) und Genf (47 Prozent) wurde überdurchschnittlich mehr als in den anderen Städten über Diskriminierungserfahrungen berichtet. In St. Gallen (20 Prozent), Lugano (23) und Basel (31) fühlte sich weniger als ein Drittel der Antwortenden im öffentlichen Raum abschätzig behandelt.
Mit einem Anteil von 55 Prozent fühlten sich obdachlose Frauen im öffentlichen Raum signifikant häufiger abschätzig behandelt als Männer mit 39 Prozent.
Gefühlte Gründe für die Obdachlosigkeit
231 obdachlose Personen gaben laut Studie Auskunft darüber, warum sie ihre Wohnung oder ihr Zimmer verloren hatten. 42 Prozent nannten finanzielle Probleme als einen der Hauptgründe. 23 Prozent gaben an, ohne Wohnung in die Schweiz gekommen zu sein, was dazu führte, keine Wohnung zu finden.
Sortiert nach der Anzahl der Nennungen folgten als subjektive Gründe für Obdachlosigkeit: der Verlust der Arbeit einschliesslich Konkurs mit 21 Prozent, die Kündigung des Mietvertrags mit 19 Prozent, Scheidung und Trennung mit 10 Prozent, Konflikte im eigenen Haushalt mit 10 Prozent, psychische oder physische Gesundheitsprobleme mit sechs Prozent, Suchtprobleme mit sechs Prozent und häusliche Gewalt mit 4 Prozent.