Zur Moral des Vergessens
Ethische Aspekte im Umgang mit Menschen mit Demenz
Auf den ersten Blick trägt das Thema «Ethik und Demenz» Eulen nach Athen. Wenn jemand unmittelbar und intuitiv unsere Empathie hervorruft, dann ein Mensch, dessen Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit sofort ins Auge springen. Entgegen dieser naheliegenden Vermutung stösst eine Ethik der Demenz allerdings auf grössere Schwierigkeiten. Nicht Menschen mit Demenz sind das Problem, sondern die Menschen, mit denen es Menschen mit Demenz zu tun haben.
Die Begegnung mit Menschen mit Demenz fordert uns nicht nur – im weitesten Sinne – zwischenmenschlich heraus, weil die üblichen Konventionen des wechselseitigen Umgangs kollabieren. Sie irritieren viel grundsätzlicher, weil sie unsere Menschen- und Weltbilder, Handlungslogiken, Sinn-, Zweck- und Nutzenüberlegungen massiv angreifen. Menschen mit Demenz wirbeln unsere Vorstellungen vom Rechten und Guten durcheinander und unterlaufen unsere etablierten und eingefleischten Normen- und Normenbegründungssysteme. Sie tun mit der grössten Selbstverständlichkeit das, was «man» nicht tut. Und «man» tut das nicht, weil «man» weiss, dass «man» das nicht tut – nur «wissen» sie das eben nicht bzw. nicht mehr. Aus soziologischer Sicht entsprechen Menschen mit Demenz nicht unseren, für das Funktionieren unserer Lebenswelten unverzichtbaren «Erwartungserwartungen».
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Menschen mit Demenz zu moralischen Subjekten werden können und zwar in einem umfassenden Verständnis davon, was Menschen als Mitmenschen ausmacht: Subjektivität, Individualität, Authentizität, Sozialität, Emotivität, Kommunikation, Symmetrie und Wechselseitigkeit. Eine mainstream-Ethik tut sich schwer, Menschen mit Demenz in dieser Weise als Subjekte anzuerkennen. Ein kurzer Blick auf diese ethische Normalform lohnt, weil sie unsere Alltagsvorstellungen von Moral und Ethik durch und durch bestimmt.
Autonomieethische Grundlagen
Im Zentrum aktueller Konzepte in der Bio- und Medizinethik steht die Auffassung, dass alle medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Massnahmen notwendig die Zustimmung der Betroffenen voraussetzen. Entsprechend lautet das erste bioethische Prinzip in dem internationalen Standardwerk von Beauchamp und Childress «Respect for autonomy». Das Selbstbestimmungsrecht von Patientinnen und Patienten begegnet in operationalisierter Form als «Informed Consent»- bzw. Prinzip der informierten Zustimmung und ist an Bedingungen der Urteilsfähigkeit gebunden:
- die Fähigkeit, Information in Bezug auf die zu fällende Entscheidung zu verstehen;
- die Fähigkeit, die Situation und die Konsequenzen, die sich aus alternativen Möglichkeiten ergeben, richtig abzuwägen;
- die Fähigkeit, die erhaltene Information im Kontext eines kohärenten Wertsystems rational zu gewichten;
- die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äussern.
Vor diesem Hintergrund werden die Befürchtungen von hochbetagten, kranken und sterbenden Menschen unmittelbar verständlich, bewegen sie sich doch in einer oder auf eine Lebensweise zu, die in der Gesellschaft weder gewollt und angestrebt, noch gestärkt und gefördert wird. Die Sorge, zukünftig nicht mehr Frau oder «Herr im eigenen Haus» zu sein, betrifft nicht nur die Befürchtung vor dem Vergessen, sondern auch vor dem Vergessen-Werden.
Fünf Verlustängste stehen im Vordergrund: Menschen haben Angst vor dem Vergessen,
- weil sie ihre Autonomie und Selbstbestimmung in Gefahr sehen;
- weil sie ihren Verstand für das Wertvollste halten, was sie besitzen;
- weil sie damit ihre Selbstkontrolle zu verlieren drohen;
- weil sie riskieren, in die Abhängigkeit von anderen zu geraten und
- weil sie befürchten, ihre Würde zu verlieren.
Demente Menschen geben ein Bild ab, dem niemand freiwillig entsprechen wollte und das niemand für erstrebenswert hält – und hinzugefügt werden muss: dass jedes ethisches Selbstbestimmungskonzept vor die Wand fährt. Wer nicht mehr selbst über sein Leben bestimmen kann, der oder dem nützt keine Ethik, die ganz auf individuelle Selbstbestimmung ausgerichtet ist.
Was tun?
Care-ethische Ergänzungen
Beauchamp und Childress selbst haben in der siebten Überarbeitung ihre «Principles of Biomedical Ethics» um fünf sogenannte «virtues of caring», Tugenden der Fürsorge ergänzt:
- Mitleid
- Urteilskraft
- Vertrauenswürdigkeit
- Integrität
- Gewissenhaftigkeit
Diese Tugenden sollen kompensatorisch dort greifen, wo das Prinzip des Respekts der Autonomie keinen Anhaltspunkt mehr findet, also bei Menschen, die nicht mehr über die Fähigkeit verfügen, ihre Autonomie wahrzunehmen oder zu aktualisieren. Aus der komplexen ethischen Diskussion über das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge10 möchte ich lediglich auf zwei Aspekte hinweisen: erstens den konzeptionellen Wechsel von einer Prinzipien- zu einer Tugendethik und zweitens die Umstellung von Misstrauen auf Vertrauen.
Liberale Ethiken richten sich an Menschen, die selbst fordern und einklagen können, wenn sie von anderen nicht anerkannt, respektiert und angemessen behandelt werden. Wer nicht mehr fordern und widersprechen kann, der oder dem bleibt nur die Hoffnung, dass die Anderen diese Prinzipien tatsächlich beherzigen.
Auf diese Unsicherheit reagiert die Ethik mit einem Perspektivenwechsel: Anstelle wechselseitig verpflichtender Prinzipien setzt sie auf einseitige moralische Forderungen, die nicht mehr – vertragstheoretisch – zwischen den Menschen platziert, sondern in die handelnde Person selbst verlegt werden. Tugenden sind internalisierte menschliche Haltungen, die unabhängig davon bestehen, wie sich andere Menschen verhalten. Sie werden nicht als Forderungen – wie bei der Selbstbestimmung – nach aussen gegen andere gerichtet, sondern – im Sinne einer Selbstdisziplinierung – nach innen auf die eigene Person bezogen.
Alle Modelle einer Fürsorge- oder Care-Ethik enthalten solche tugendethischen Komponenten.
«Will you still need me, will you still feed me, when I’am sixtyfour»,
also ‹wirst du mich noch brauchen› – d.h. wirst du noch etwas von mir erwarten – und erst danach ‹wirst du mich noch füttern, wenn ich 64 bin›? Medizin- und Gesundheitspolitik begnügen sich wesentlich mit dem zweiten Teil der Frage und unterschlagen die für Anerkennungsverhältnisse fundamentale soziale Dimension wechselseitiger Erwartungen.
Leibhaftige Authentizität
Nach diesen kritischen Bemerkungen möchte ich wenigstens eine Piste andeuten, die aus dem ethischen Dilemma herausführen kann. Eine Alternative zu Autonomie-, Rationalitätsund Selbstbstimmungsbedingungen bieten Authentizitätsmodelle. Ein Konzept vorreflexiver Authentizität stützt sich nicht auf die Rationalität von Urteilen, Entscheidungen und Gründen, sondern auf die Kohärenz des Verhaltens. Vorreflexive Authentizität verzichtet auf Rationalitätsbedingungen ohne damit das «evaluative Selbstverständnis der Person» als moralisches Subjekt zu bestreiten. Subjektivität konstituiert sich in nicht reflektierten, «basalen Formen emotionaler oder affektiver Art» und bildet den nicht notwendig bewussten «authentischen ‹Kern›» der Person, der für ihre Wertungen und Handlungen leitend ist. «Eine Persönlichkeit kann sich durch ein evaluatives Selbstbild konstituieren, welches sich in der Lebensführung als Kohärenz erzeugender und Handlungen leitender Kern vorreflexiv authentischer Wünsche und Überzeugungen manifestiert, ohne selbst für die jeweilige Person thematisch zu werden.» Aus dieser Perspektive fragen Dritte nicht nach der Plausibilität der Gründe, die eine Person für ihren Entscheidungen und Handlungen angibt.
Vielmehr geht es darum, das Verhalten dieser Person als kohärenten Ausdruck ihrer Wertungen und ihres Selbstbildes wahrzunehmen.
Bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz muss eine solche vorreflexive Authentizität unter Umständen im Sinne einer regulativen Idee kontrafaktisch unterstellt werden. Das heisst, auch wenn wir keinen kohärenten «roten Faden» in ihrem Verhalten erkennen können, unterstellen wir, dass es diese Einheit und Folgerichtigkeit gibt.
Ein solches Kohärenzverständnis kann sich natürlich nicht auf harte empirische Fakten stützen, sondern ist auf story-kontextualisierte, narrativ vermittelte Aspekte angewiesen. Entscheidend kommt es nicht darauf an, die betroffene Person in ihren Geschichten, sondern meine Geschichten mit der betroffenen Person wahrzunehmen. Eine solche narrative (Re- )Konstruktion einer gemeinsamen story von Betroffenen und Beteiligten setzt die Anerkennung des Menschen mit Demenz als moralisches Subjekt voraus. Was dieser theoretisch anspruchsvoll erscheinende Zugang austrägt, lässt sich an einem Gedicht von Rainer Maria Rilke veranschaulichen.
«Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.»
Bei Rilkes Betrachtung des Torsos des griechischen Gottes Apollon geschieht etwas Verblüffendes. Obwohl der Statue der Kopf fehlt, ist der Blick der Augen jenes längst verlorengegangenen Kopfes im Rest des Denkmals noch präsent. Von ihr geht eine irritierende Lebendigkeit aus: ein Glühen, Glänzen, Blenden, Drehen, Lächeln, Flimmern gleich einem Stern. Die Leuchtkraft der Statue schwillt immer weiter an und mündet in eine Konfrontation, die die Verhältnisse völlig auf den Kopf zu stellen scheint: «denn da ist keine Stelle, die dich nicht ansieht». Die Statue ohne Augen schaut aus jedem Winkel ihres Körpers den Dichter an.
Das Kunstwerk wird selbst zum Betrachter und der Betrachter zum betrachteten Objekt. Der in Stein gehauene, verwitternde Gott erwidert sozusagen den Blick des Kunstliebhabers.
Und als wäre das nicht schon genug, endet Rilke mit der ethischen Forderung: «Du musst dein Leben ändern.»
Rilke führt uns vor Augen, was passiert, wenn wir zu Opfern unserer eigenen Theorien werden. Dann bestimmen sie unsere Erwartungshaltungen und machen den Gegenüber vollständig zum Beweis und Exemplar unserer medizinischen oder ethischen Theorien darüber. Solchen Stigmatisierungen entgehen wir nur, wenn wir in unseren Wahrnehmungen von Menschen mit Demenz der medizinischen «Diagnostik trotzen».
Das wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Einsicht: Demenz ist nicht die Abweichung von unserer Normalität, sondern eine eigene Normalität, zu der wir uns häufig unnormal verhalten