Die Integration künstlicher Intelligenz (KI) in den Handel gilt als einer der tiefgreifendsten technologischen Umbrüche unserer Zeit. Was sich derzeit in den Läden, Logistikzentren und Online-Plattformen abzeichnet, hat das Potenzial, das Einkaufserlebnis grundlegend zu verändern – für Kundinnen und Kunden ebenso wie für Mitarbeitende und Unternehmensstrategien. Die neue Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI) mit dem Titel «Smart und menschlich» beleuchtet dieses Spannungsfeld zwischen Effizienzmaximierung und Kundenzentrierung auf eindrückliche Weise.
Mehr als 3000 Konsumentinnen und Konsumenten sowie 287 Managerinnen und Manager von Handelsunternehmen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich wurden befragt. Die Ergebnisse zeigen ein komplexes Bild: Auf der einen Seite steht die Hoffnung, dass KI den Alltag erleichtern, Entscheidungen verbessern und Ressourcen schonen kann. Auf der anderen Seite dominieren Misstrauen, Ängste und eine klare Skepsis gegenüber den Motiven der Unternehmen.
Die Studienautorinnen und -autoren stellen klar: KI ist kein vorübergehender Hype. Sie basiert auf jahrzehntelanger Forschung und ist inzwischen in vielen Bereichen des Lebens angekommen – von der Medizin über die Bildung bis hin zum Einkauf. Technologien wie ChatGPT oder Midjourney haben KI-Anwendungen massentauglich gemacht und einen regelrechten Innovationsschub ausgelöst. Zwischen 2013 und 2023 flossen weltweit rund 1300 Milliarden US-Dollar in KI-Unternehmen, allein die Zahl der Patente stieg in den Jahren 2021–2022 um 63 Prozent. Der Handel – als Schnittstelle zwischen Herstellern und Konsumentinnen – wird dabei zu einem zentralen Schauplatz der Transformation.
Doch der Weg zur erfolgreichen KI-Integration ist kein Selbstläufer. Gemäss Mitteilung des GDI erwarten viele Menschen, dass sich ihr Leben durch KI verschlechtern wird. Besonders gross ist das Misstrauen gegenüber den Unternehmen, denen ein verantwortungsvoller Umgang mit der Technologie nur selten zugetraut wird. 76 Prozent der Befragten befürchten Missbrauch zu böswilligen Zwecken, 73 Prozent sorgen sich vor Manipulation durch Falschinformationen, 64 Prozent sehen den Schutz der Privatsphäre gefährdet. Gerade im Handel, wo der persönliche Kontakt ein zentrales Element des Einkaufserlebnisses bleibt, sorgt die Vorstellung von automatisierten Prozessen und kassenlosen Läden für Unbehagen.
Interessanterweise zeigen die Daten auch: Je konkreter der Nutzen, desto grösser die Akzeptanz. Wenn KI als Werkzeug zur Lösung realer Alltagsprobleme auftritt – etwa durch die Optimierung der Produktsuche, durch Preisvergleiche oder durch eine verbesserte Entscheidungsfindung beim Einkauf – steigt die Zustimmung deutlich. So wünschen sich rund drei Viertel der Befragten Unterstützung durch eine KI beim Finden des besten Preises oder beim Identifizieren verlässlicher Anbieter. Die Studienautorinnen und -autoren fassen zusammen: «Was Probleme löst, wird akzeptiert.»
Ganz anders die Perspektive des Managements: Die befragten Handelsverantwortlichen zeigen sich deutlich optimistischer, was die Möglichkeiten von KI betrifft. 60 Prozent sehen grosses Potenzial für die Branche, 45 Prozent für das eigene Unternehmen und 44 Prozent für den eigenen Arbeitsalltag. Dabei dominiert der Wunsch nach Effizienzgewinnen. Die tatsächliche Nutzung ist allerdings noch begrenzt: Nur 5 Prozent der Unternehmen verfügen über eine dedizierte KI-Strategie. Die meisten arbeiten «experimentell» mit einzelnen Pilotprojekten.
Doch ein grundlegendes Problem offenbart sich in der Gegenüberstellung von Management- und Konsumentensicht: Die Investitionen der Unternehmen konzentrieren sich oft auf Bereiche mit geringer wahrgenommener Relevanz für die Kundschaft. Während das Management in Felder wie Marketing oder interne Prozessautomatisierung investiert, wünschen sich die Konsumentinnen und Konsumenten vor allem konkrete Erleichterungen im Einkaufserlebnis. So setzen viele Firmen auf personalisierte Werbung, während sich die Menschen vor allem attraktive Preise, gute Produktverfügbarkeit und verlässliche Informationen wünschen. Die Autoren der Studie sprechen von einem strategischen Zielkonflikt – und plädieren für einen Kurswechsel.
Dabei stellt sich auch die Frage: Wer profitiert vom KI-Einsatz im Handel? Die Antwort fällt aus Sicht der Konsumentenschaft deutlich aus: 55 Prozent glauben, dass vor allem die Unternehmen davon profitieren, nur 5 Prozent sehen die Vorteile primär bei den Kundinnen und Kunden. Das GDI resümiert: «Vertrauen in die Motivation der Unternehmen ist eine zentrale Voraussetzung für die Akzeptanz von KI im Handel.»
Um diesen Vertrauensverlust zu überwinden, schlägt die Studie das TRADE-Framework vor. Es bietet Handelsunternehmen eine praxisnahe Orientierung für eine menschenzentrierte KI-Strategie. Das Modell differenziert zwischen vier Geschäftsmodellen – Discounter, Qualitätsführer, Serviceführer und Nischenanbieter – und gibt Empfehlungen, wie die durch KI erzielten Effizienzgewinne sinnvoll eingesetzt werden können. Etwa durch günstigere Preise, bessere Beratung oder gezielte Schulung von Mitarbeitenden.
Denn klar ist auch: Der persönliche Kontakt bleibt für viele Kundinnen und Kunden unverzichtbar. Zwar zeigt sich in der Studie auch eine gewisse Offenheit gegenüber autonomen Einkaufslösungen – besonders bei jüngeren Zielgruppen – doch 64 Prozent der Befragten betonen, dass man den Wert menschlicher Beratung durch keine Technologie ersetzen kann. 40 Prozent würden Läden boykottieren, die ihr Personal durch KI-Systeme ersetzen. Die Herausforderung liegt also in der Balance: KI soll das Verkaufspersonal nicht ersetzen, sondern stärken – durch sogenannte «Augmented Intelligence», also eine intelligente Zusammenarbeit von Mensch und Maschine.
Ein weiterer Fokus liegt auf den Mitarbeitenden im Handel. Besonders einfache Tätigkeiten, etwa an der Kasse, gelten als hochgradig automatisierbar – mit entsprechend hohem Risiko für Beschäftigte in diesen Bereichen. Die Studienverfasserinnen und -verfasser fordern deshalb gezielte Weiterbildungsangebote, damit sich Mitarbeitende auf neue Rollen vorbereiten können. Gefragt seien in Zukunft vor allem soziale Kompetenzen, Resilienz und kritisches Denken – Fähigkeiten, die Maschinen nicht ersetzen können.
Und wie steht es um die Zukunft? Das GDI sieht die Handelsunternehmen in einer doppelten Verantwortung: als Treiber des technologischen Wandels und als Brückenbauer zwischen Technologie und Gesellschaft. «Eine KI-Strategie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern auch gesellschaftlich tragfähig ist», heisst es in der Studie. Unternehmen sollten sich deshalb nicht allein von Effizienzdenken leiten lassen, sondern auch ethische, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigen.
Die Studie endet mit einem eindringlichen Appell: Künstliche Intelligenz ist kein Selbstzweck. Sie kann das Leben der Menschen verbessern – aber nur, wenn sie menschlich bleibt. Wenn Unternehmen es schaffen, Technologie mit Verantwortung zu verbinden, dann eröffnet KI tatsächlich neue Möglichkeiten. Nicht nur für den Handel, sondern für die ganze Gesellschaft.