Was macht die Impfdebatte mit der Schweiz?

Was macht die Impfdebatte mit der Schweiz?

Ethisch begründungspflichtig ist die Verweigerung der Solidarität gegenüber denjeni-gen, die darauf angewiesen sind, so die EKS zur aktuellen Impfdebatte in der Schweiz. Global betrachtet bemesse sich die politisch angemahnte Solidarität an der weltweiten Gleichheit des Impfzugangs.

Die öffentlichen Debatten über die Corona-Impfung haben sich seit ihrer Einführung stark verschoben, schreibt Ethiker Frank Mathwig im Papier der EKS. Die aktuelle Diskussion kreise um den rechtlich-moralischen Verpflichtungsgrad der Impfung und über eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung geimpfter und nichtgeimpfter Personen.

Unbestreitbar positive Wirkung der Impfung…

Ein Blick auf die Zahlen der geimpften und nichtgeimpften Coronapatientinnen und -patienten in den Spitälern belege die unbestreitbare positive Wirkung der Impfung. Eine geimpfte Gesellschaft ist vor den gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Folgen einer Infektion sicherer geschützt, als eine Gesellschaft ohne Impfschutz, stellt die Position fest.

Niemand besitze Freiheit für sich allein, sondern immer im Blick auf andere. Deshalb könne eine liberale Gesellschaft nur die Freiheiten akzeptieren, die für jedes Mitglied gleichzeitig und in gleichem Umfang gelten, so das Papier weiter. Freiheiten in der Pandemie seien gleich, wenn auch die am stärksten gefährdeten in gleicher Weise davon profitierten.

In den aktuellen Impfkontroversen prallten der Schutz der persönlichen Freiheit und körperlichen Integrität mit der sozialen Verantwortung für die Gemeinschaft aufeinander. Ethisch begründungspflichtig sei die Verweigerung unserer Solidarität gegenüber denjenigen, die darauf angewiesen seien, so Mathwig.

Aus ethischer Sicht sei das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Impfung nicht nur die eigene Gesundheit angehe, sondern auch mit den Gesundheitsrisiken anderer spekuliere, etwa der Menschen, die angesteckt würden, weil sie auf die Betreuung und Begleitung anderer angewiesen seien.

…aber keine staatlichen Beschränkungen

Die 3G-versus-2G-Debatte werfe die juristische Frage auf, ob nichtgeimpfte gegenüber geimpften und genesenen Personen ungleich behandelt werden dürften. Möglich sei eine Ungleichbehandlung, wenn sie nachweislich mit einem allgemeinen Interesse begründet werden könne und nicht in die grundlegenden Rechte und Bedürfnisse der betroffenen Personen eingreife. Die Begründung dürfe sich jedoch nicht auf den negativen Impfstatus der Person berufen, sondern auf die Gefährdungslage, die von nichtgeimpften Personen für die Allgemeinheit ausgehe. Zulässig sei ein solcher Schritt nur, wenn mit der Massnahme Ansteckungen und Engpässe bei der medizinischen Versorgung nachweislich verhindert würden.

Aus gesellschaftspolitischer Sicht sollten sich die Kirchen gemäss EKS-Position für eine Beibehaltung der 3G-Regelung inklusive der Rückkehr zur staatlichen Finanzierung von Tests einsetzen, so die EKS. Staatliche Beschränkungen taugten nicht als gesellschaftliches Motivations- oder Disziplinierungsinstrument. Ungleichbehandlungen zwischen geimpften sowie genesenen und nicht geimpften Personen riskierten zudem, die rechtlich garantierte Impffreiheit zu unterlaufen. Die zunehmenden Impfdurchbrüche schwächten die Aussagekraft des Zertifikats und liessen die Frage aufkommen, ob der Test nicht wieder in den Mittelpunkt rücken solle, zumindest bis alle geimpften Personen Zugang zu einer Auffrischungsimpfung hätten. Die Risiken durch die abnehmende Immunität von geimpften Personen könnten schliesslich durch eine Maskenpflicht erheblich reduziert werden.

Das Virus verschärfe die bestehenden gesellschaftlichen und gesundheitlichen Ungleichheiten. Weil ein global grassierendes Virus jedoch nicht an den Landesgrenzen Halt mache, sei das nationale Horten von Impfstoffen ebenso fatal, wie die einseitige Fokussierung auf die eigene Bevölkerung. Die politisch angemahnte Solidarität bemesse sich nicht an der Gleichheit der Impfentscheidungen, sondern an der weltweiten Gleichheit des Impfzugangs.

Im Gespräch mit diakonie.ch erläutert Frank Mathwig die Position der EKS und führt Überlegungen zur aktuellen ethischen Debatte aus.

Die Impfdiskussion wirkt festgefahren. Wo ist eigentlich das Problem?

Frank Mathwig: Die aktuelle Diskussion um eine Impfpflicht steht symptomatisch für eine signifikante Veränderung des öffentlichen Diskussionsklimas. Wir erleben derzeit eine massive Verrohung durch Moral. Die Impfentscheidung wird auf beiden Seiten als eine Art Glaubensbekenntnis stilisiert. Wenn sich die medizinische, politische und Medienrhetorik kaum noch von der einer Moralpredigt unterscheidet, steht eines fest: Der Gesellschaft droht ihre seit der Aufklärung so viel gepriesene Rationalität abhanden zu kommen.

Unbestreitbar gilt: Mit der Impfung schützen Menschen sich nicht nur selbst, sondern auch ihre Mitmenschen ungleich effizienter als ohne Impfung. Aber die monokausale Erklärung der geringen Impfquote muss hinterfragt werden. Der ethische Kern der Impfpflicht-Diskussion betrifft die knappen Intensivkapazitäten. Triage-Situationen, bei denen Patientinnen und Patienten lebensrettende medizinische Massnahmen vorenthalten werden, sind nicht nur eine medizinische, sondern eine gesellschaftliche Notlage. Alle Gesellschaftsmitglieder sind aufgefordert, sich zu fragen, ob und was sie zur Abwendung dieser Situation beitragen können, die auch ihr Leben kosten könnte.

Wohin steuert die ethische Debatte, wenn auch in den nächsten Jahren kein Ende der Pandemie in Sicht ist?

Frank Mathwig: Die ethische Debatte wird bereits heute von appellativer Moralkommunikation überlagert. Politische Legitimation geht dabei auf Kosten kritischer Reflexion. Absehbar ist, dass Fragen der politischen Ethik (des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Konfliktbearbeitung, Freiheitsrechte etc.) schon sehr bald an die Stelle der medizin- und bioethischen Fragen zur Pandemie treten werden.

Eine bisher nicht zur Kenntnis genommene politische Frage bei der Impfpflicht lautet etwa: Gibt es eine Sozialpflichtigkeit des Körpers, die den Staat autorisiert, auf die Körper seiner Bürgerinnen und Bürger zuzugreifen? Die Frage betrifft keine medizinischen, epidemiologischen oder pragmatische Nutzenerwägungen, sondern die Legitimität rechtsstaatlicher Politik.

Komplementär dazu stellt sich die politisch-ethische Frage nach den gesellschaftlichen Gemeinsinnressourcen. Die inflationären Solidaritätsappelle übersehen, dass Gemeinsinn nicht staatlich verordnet und durchgesetzt werden kann, sondern von den Gesellschaftsmitgliedern selbst erbracht werden muss. Der Staat hat die Freiheiten zu garantieren, von denen die Bürgerinnen und Bürger im eigenen Interesse und in Verantwortung für die Gemeinschaft Gebrauch machen sollen.

Inwieweit darf der Staat über die Selbstverantwortung der Menschen hinaus – oder stellvertretend für sie – Entscheidungen für sie treffen?

Frank Mathwig: Der Staat übt eine rechtlich präzise definierte kontrollierende und regulierende Funktion im Blick auf die Verantwortung der Bevölkerung aus. So können etwa die elterliche oder Selbstverantwortung in besonderen Fällen advokatorisch von staatlichen Behörden übernommen werden.

Die Eingriffe sind streng schutz- und nicht nutzenorientiert. Natürlich hätte eine möglichst hohe Impfquote aus heutiger Sicht einen gesellschaftlichen Nutzen. Aber rechtfertigt der Nutzen einen staatlichen Eingriff in die von ihm garantierte körperliche Integrität der Person? Darf der im Einzelfall erlaubte staatliche Eingriff in persönliche Verantwortungsverhältnisse als allgemeines Recht (der Impfpflicht) generalisiert werden? Die Antworten darauf sind derzeit in der Schweiz genauso deutlich negativ, wie – nach dem Dominoeffekt – in Deutschland positiv.